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Junge Neonazis nehmen in Halbe (Brandenburg) bei einer Demonstration teil.

© dpa

Lebenslänglich Opfer rechter Gewalt: Wie der Angriff eines Neonazis ein Leben zerstörte

Orazio Giamblanco wurde 1996 von einem Skinhead in Brandenburg mit einem Baseballschläger niedergeschlagen. Seither ist der Italiener schwerbehindert.

Von Frank Jansen

[Der Potsdamer Verein „Opferperspektive“ sammelt Spenden für Orazio Giamblanco: Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE34100 20500 00038 13100, BIC: BFSWDE33BER, Stichwort „Orazio“. Wer eine Quittung möchte, nennt bitte auf der Überweisung die Anschrift. Der Verein wird im Februar die Quittungen versenden. Spenden nimmt auch die Stadt Trebbin entgegen unter Mittelbrandenburgische Sparkasse, IBAN: DE24160 50000 36470 21740, BIC: WELADED1PMB, Stichwort „Spende für Orazio Giamblanco“. Spendenquittungen gibt es über das Trebbiner Rathaus, Telefon (033731) 8420.]

Die jährlichen Besuche bei dem schwer behinderten Orazio Giamblanco in Bielefeld beginnen mit einem eher heiteren Ritual. Wir treffen uns sonntagabends in einem Lokal. Wir plaudern über das vergangene Jahr, wir essen und trinken ein wenig Rotwein. Mehr als ein Glas würde Orazio nicht vertragen, auch seine griechische Lebensgefährtin Angelica Stavropolou und deren Tochter Efthimia Berdes halten sich zurück.

Dieses Jahr haben die beiden Frauen Orazio in seinem Rollstuhl in ein China-Restaurant geschoben, sein Lieblingsitaliener hat zu. Die Stimmung ist gut, wir scherzen über Orazios leicht verwegenen Anblick – der Sizilianer hat sich jetzt im Alter von 78 Jahren einen weißgrauen Bart wachsen lassen. Orazio und die Frauen lachen, sie freuen sich über das familiär anmutende Treffen mit dem Journalisten aus Berlin. Dass wir uns duzen, ist schon lange selbstverständlich. Doch bei einer meiner Fragen, eigentlich geht es um ein Routinethema, ist die gute Laune zerstört.

Sizilien in weiter Ferne

Dieses Jahr war ein Rückschlag, wie er für Orazio, aber auch die 68 Jahre alte Angelica und die 45-jährige „Efi“, kaum härter sein könnte. Die Reise in Orazios alte Heimat Sizilien, ein Glücksmoment in all den Jahren zuvor, von dem er und Angelica und Efi lange zehren – diesmal haben sie es nicht geschafft. Sonst haben die drei bei den Treffen im November immer erzählt, was sie auf Sizilien erlebt haben, wie sie die warme Luft genossen haben, dass „ihr“ Taxifahrer sie über die Insel gefahren hat, dass sie im Hotel ein extra großes Zimmer bekamen wegen Orazios Rollstuhl.

Die Geschichten klangen, als hätten sie sich eine Auszeit genommen vom endlosen Leiden, zu dem Orazio und die Frauen verurteilt sind, seitdem am Abend des 30. September 1996 ein Skinhead im brandenburgischen Trebbin Orazio überfiel und fast zu Tode prügelte.

Der junge Rassist, ein kräftiger Kerl, schlug seine Baseballkeule mit Wucht gegen den Kopf des Hilfsbauarbeiters aus Italien. Dass Orazio überlebte, grenzt an ein Wunder. Mehr als Überleben ist allerdings bis heute kaum möglich. Orazio leidet unter spastischer Lähmung, er kann nur mühsam sprechen, er hat Depressionen und schwere Probleme mit der Verdauung. Jede Krankheit – jetzt leidet er unter anfallartigem Husten – wird durch die schwere Behinderung zur doppelten Qual. Doch all das war einmal im Jahr auf Sizilien beinahe vergessen. Die angenehme Erinnerung an den Lichtblick „Sicilia“, Orazio nennt nur den italienischen Namen, schwang oft bei meinen Besuchen im November mit. Das fehlt jetzt.

10.000 Opfer rechter Gewalt

Seit unserem ersten Treffen im April 1997, damals lag Orazio in einer Spezialklinik in Niedersachsen, berichte ich jedes Jahr über das Elend des Italieners und der beiden Frauen. Als exemplarische Langzeitstudie über ein schwer getroffenes Opfer rechter Gewalt und die kaum weniger gequälten Angehörigen. Mehr als 10 000 Menschen, das lässt sich aus Statistiken der Polizei schließen, wurden seit der Wiedervereinigung bei Nazi-Angriffen verletzt. Recherchen des Tagesspiegels ergaben, dass mindestens 170 Opfer bei Angriffen starben.

Wie es Orazio ginge, wären nicht Angelica und Efi an seiner Seite, möchte sich niemand ausmalen. Angelica hat seit 1996 nicht mehr gearbeitet, Efi wurde wegen ihrer zunehmenden Fehlzeiten von einem wenig empathischen Chef aus der Lehre als Friseurin gedrängt. Die beiden Frauen opfern sich für Orazio auf.

Sie haben für ihn mit Krankenkassen gestritten, den Elektrorollstuhl erkämpft, die Reisen organisiert. Doch Orazios Lebenskraft wird schwächer. Dieses Jahr gibt es keinen Lichtblick, nur Elend. „Ist nicht gut“, nuschelt Orazio im Restaurant. Mit in sich gesunkenem Blick hört er zu, als die Frauen erzählen, wie die für Juni geplante Reise nach Sizilien scheiterte.

Dauerpflege belastet auch Frau und Tochter

„Schon fünf, sechs Monate vorher hat Orazio immer angefangen zu erzählen, Urlaub! Urlaub!“, sagt Angelica. „Wir sind zum Reisebüro und haben gebucht.“ Geplant war, wie jedes Jahr, von Hannover nach Catania zu fliegen. Nun sogar für fünf Wochen. Efi nahm in der Schokoladenfabrik, in der sie als Produktionshelferin arbeitet, drei Wochen Urlaub. Zwei weitere Wochen konnte sie frei nehmen wegen ihrer vielen Dienste an Wochenenden.

Die Frauen reservierten in einem teuren, aber halbwegs behindertengerechten Hotel bei Catania zwei Zimmer. Mit den vielen Spenden der Leserinnen und Leser des Tagesspiegels war das möglich, wie in den vergangenen Jahren auch. Orazio, Angelica und Efi freuten sich auf die mediterrane Wärme, die Ruhe – und auf sich selbst, auf ihre Genussfreude und Gelassenheit.

Auf Sizilien waren sie glücklich, das haben die drei immer wieder nach den Urlauben erzählt. Auch Angelica und Efi konnten sich ein wenig erholen, vom Dauerstress der Pflege für Orazio und bei Efi auch von der Doppelbelastung Pflege und Fabrikjob. Doch jetzt fiel die ersehnte Entspannung weg. Im letzten Moment.

Es war ein schwieriges Jahr. Orazio Giamblanco und seine Lebensgefährtin Angelica Stavropolou im China-Restaurant in Bielefeld.
Es war ein schwieriges Jahr. Orazio Giamblanco und seine Lebensgefährtin Angelica Stavropolou im China-Restaurant in Bielefeld.

© Frank Jansen

„Wir sollten um sieben Uhr morgens von Hannover fliegen“, sagt Efi. Das Taxi war bestellt. „Aber um vier Uhr nachts sagte Orazio, ‚mir ist schlecht‘. Er war ganz blass und total verschwitzt. Wir haben ihn auf den Balkon gebracht. Da haben wir zwei Stunden gesessen.“ Aber es wurde nicht besser. „Wir bekamen Angst“, sagt Angelica. „Was machen wir, wenn das oben in der Luft passiert?“

Sie flogen nicht. Die Frauen waren verzweifelt. „Ich hatte alles bestellt, ich hatte in der Apotheke alle Tabletten besorgt“, sagt Efi. Orazio nickt und blickt nach unten. „Am nächsten Tag sind wir zum Arzt“, sagt Angelica. Der Hausarzt in Bielefeld, ein gebürtiger Italiener, redete lange mit Orazio. Die Diagnose: Orazio hatte Flugangst und bekam eine Panikattacke. „Orazio fürchtete sich vor dem Landen, wenn es so steil runtergeht“, sagt Efi.

2003: die erste Reise nach Sizilien

Da wurden Erinnerungen wach an die geplante erste Reise in Richtung Sizilien nach dem Angriff des Skinheads. Im März 2002 wollten Orazio und die zwei Frauen gemeinsam mit mir fliegen. Ein umtriebiger Berliner aus der Stahlbranche hatte seine Freiflüge, erworben über Miles & More, Orazio und den Frauen geschenkt. Der Spender bot auch an, mitzukommen.

Wir beide fuhren zum Flughafen Hannover und warteten. Die drei aus Bielefeld kamen nicht. Nach einigen Stunden waren sie am Telefon zu erreichen. Orazio hatte sich bei der Taxifahrt mehrmals übergeben. Die große, wenn nicht übergroße Freude auf die alte Heimat war in Stress umgeschlagen. Auf halber Strecke zwischen Bielefeld und Hannover musste der Taxifahrer umkehren.

Die Verzweiflung war groß, aber Orazio gab nicht auf. Ein Jahr später versuchten er und die Frauen es nochmal. Der Spender aus Berlin und ich waren wieder dabei. Und es klappte. Wir flogen im Juni 2003 nach Sizilien, wir fuhren über die Insel, wir besuchten die Grabstätte von Orazios Eltern. Dort war er lange nicht mehr gewesen, nach dem Überfall in Trebbin erschien eine Reise, wohin auch immer, zunächst gar nicht mehr möglich. Dass Orazio es dann doch mit den Frauen schaffte, machte ihn glücklich.

Wir saßen abends im Garten des Hotels und plauderten. Orazio fühlte sich so beschwingt, dass er selbst spät noch seine Krücken schnappte und Gehübungen machte. Langsam schlurfte er in Richtung Pool und wieder zurück, mehrere Male. Erschöpft, aber zufrieden sackte er in den Gartenstuhl. Angelica und Efi waren nicht ganz so euphorisch, aber auch erleichtert. Ein erster Lichtblick, dem weitere folgen sollten. Die drei fuhren dann Jahr für Jahr nach Sizilien. Und zeigten mir in jedem November heitere Fotos.

Die Gesundheit der Frauen leidet

Ob das nochmal möglich ist? Es bleibt fraglich, nicht nur wegen Orazios Schwächeanfall im vergangenen Juni. Drei Tage danach brach Angelica zusammen. „Mir kam Blut aus der Nase und aus dem Mund“, sagt sie. „Meine Beine waren so schwer, als hätten sie 200 Kilo.“ Efi versuchte, mit Handtüchern, getränkt in kaltem Wasser, zu helfen. Es nutzte nichts.

Die Frauen fuhren zum Hausarzt, der die Diagnose schnell stellte. Die zierliche Frau leidet seit Jahren unter Bluthochdruck, sie führt das auf die anstrengende Pflege für Orazio zurück. Der Arzt habe gesagt, „ich hatte Glück, dass ich keinen Schlaganfall bekommen habe“.

Der Bluthochdruck ist nur eines der Symptome einer extremen Dauerbelastung. Angelica geht seit Jahren zum Psychiater, doch ihre Depressionen wird sie nicht los. Auch Efi gehört seit 2013 zu den Dauerpatienten. Damals erlitt sie einen depressiven Schub und hätte sich beinahe umgebracht. Es war nicht mehr auszuhalten, das Leben zwischen dem Pflichtgefühl, der Mutter bei der Hilfe für Orazio beistehen zu müssen, und dem Drei-Schichten-Job in der Schokoladenfabrik.

Efi bekam harte Medikamente verschrieben, sie machte eine Kur, sie spricht regelmäßig mit dem Psychiater, für sie „ein netter Mann“. Doch die Depressionen schwelen weiter. „Immer wenn ich unruhig bin, nehme ich die Tabletten“, sagt sie. Efi berichtet von Schlafstörungen, von dauernder Nervosität. Sie raucht viel, „ich denke immer, das beruhigt, aber das stimmt nicht“, Efi lacht kurz über sich selbst. Ihren Traum, eine eigene Familie zu gründen, hat sie längst aufgegeben. Kein Freund hielt es aus, auf gemeinsame Zeit mit Efi wegen ihrer Hilfe für Mutter und Orazio verzichten zu müssen. „Die Männer wollen was erleben“, sagt Efi, „das verstehe ich auch. Aber Familie geht vor. Ich würde meine Mutter und Orazio nie im Stich lassen.“

„Ich habe viel verloren“

So geht sie wie immer mit, als das zweite Ritual meines jährlichen Besuchs ansteht. Montags schaue ich mir an, wie Orazio die Krankengymnastik schafft. Er hat schon viel ausprobiert, die Bielefelder Krankenhäuser mit ihren Abteilungen für Physiotherapie wie auch Fitnessstudios. In die weicht Orazio aus, wenn er therapiemüde wird, wenn er das Vertrauen in die Fachleute verliert, weil seine spastische Behinderung doch nicht nachlässt.

Was auch angesichts der Schwere der erlittenen Kopfverletzung nicht zu erwarten ist, aber Orazio will es nicht akzeptieren – und hat daraus viel trotzige Kraft für die Übungen an den Geräten gezogen. Doch die Psyche und dann auch der Körper machen jetzt nicht mehr mit. Ohne „Sicilia“ keine Kraft.

Vergangenen Montag setzt sich Orazio in einem Fitnessstudio in der Bielefelder City an eine „Brustpresse“. Ringsum keuchen Männer und Frauen auf Laufbändern, stemmen Hanteln, bewegen Stahlbügel vor und zurück. Orazio ruckelt an den Griffen seines dunkelgrauen Apparats. Efi hat ihm zehn Kilogramm aufgelegt, die hat er früher locker gezogen.

Die Meldung über den Übergriff auf Orazio aus dem Jahr 1996.
Die Meldung über den Übergriff auf Orazio aus dem Jahr 1996.

© Tsp

Doch es geht nicht. Orazio atmet schwer, die Arme wollen nicht. Er gibt auf. Efi schlägt ihm vor, es an der Schulterpresse nebenan zu probieren. Orazio sagt nichts, Efi bugsiert ihn mühsam zum Gerät, sie stellt das Gewicht auf fünf Kilo ein. Es klappt nicht. Orazio zieht an den Bügeln, nach wenigen Minuten lässt er die Arme hängen. Wir verlassen das Studio.

„Ich habe viel verloren“, sagt Orazio. Er sitzt in seinem Elektrorollstuhl, Efi hat ihn dick eingemummelt. Den einen Kilometer nach Hause fährt er ohne Begleitung. Das will er so, das schafft er auch. Efi sagt, sie habe jedes Mal Angst, wenn sie ihn wegfahren sieht.

Der Täter sympathisiert mit der AfD

Einen Lichtblick gibt es allerdings immer noch. Viele Leserinnen und Leser des Tagesspiegels zeigen schon seit den ersten Reportagen unentwegt Anteilnahme. Jahr für Jahr wird Geld gespendet. Mitte November rief bereits eine Leserin an und fragte, ob Orazio noch lebt, ob wieder die Geschichte kommt, ob sie wieder spenden kann. Das tut den drei Geschlagenen in Bielefeld gut.

Beim Abschied am Montagnachmittag sprechen wir kurz über ihre Pläne für 2020. Orazio sagt leise, „will versuchen Sicilia“. Angelica schaut skeptisch, „ja, vielleicht“. Efi sagt spontan, „ich bin dabei“. Sie blickt auf Orazio, „aber wir müssen aufpassen, dass es für ihn kein Stress ist“.

Epilog. Der Täter von 1996, Jan W., weiß ungefähr, wie es seinem Opfer geht. Der Skinhead, 1997 vom Landgericht Potsdam zu 15 Jahren Haft verurteilt, hat sich von der Naziszene entfernt. In Briefen an Orazio und die Frauen bereute er seine Tat. Ich habe ihn mehrmals getroffen und erlebt, wie er mit sich und seiner Schuld haderte. Doch als in einer Orazio-Reportage stand, Jan W. zeige bei Facebook Sympathie für die AfD, brach er den Kontakt ab. Das Interesse am Schicksal von Orazio und den beiden Frauen ist aber vielleicht nicht völlig erloschen. Jedenfalls hat Jan W. nach dem Bruch mit dem Tagesspiegel keines der Zeitungsexemplare zurückgeschickt, in denen die jährliche Geschichte aus Bielefeld stand.

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