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Die ewige Sekunde. Profisurfer Afridun Amu trainiert im Wasserkanal des Berliner Wellenwerks für die Asienmeisterschaften 2019.

© Mike Wolff

Indoor-Surfen in Berlin: Die unmögliche Welle

Ist das noch Surfen? Ohne Meer und ohne Brandung? In Berlin entsteht eine Arena fürs Wellenreiten, die den Sport verändert und das Glück, das er verspricht.

Es gibt viele Arten, eine Welle zu erzeugen. Du wirfst einen Stein in den See, und sein Spiegel löst sich in Ringen auf. Du fährst mit einem Boot, das Wellen hinter sich herzieht wie eine Schleppe. Du lässt eine Uferböschung seinen Halt verlieren und produzierst einen Tsunami. Aber warum solltest du das tun wollen? Wellen kommen in der Natur so reichlich vor, dass du gelernt hast, sie für dich zu nutzen. Du surfst.

Wobei du dich nicht erinnern kannst, je eine Welle in Berlin gesehen zu haben, die du hättest surfen können. Die Welt Berlins ist eine Scheibe, das weiß jeder. Da ist kein Gewässer, das Wellen schlägt, und kein Fluss, auf den das Wort fließen zutreffen würde. Da ist bloß flaches Nichts.

Trotzdem soll man in Berlin surfen können. Ausgerechnet.

„Was technisch machbar ist“, sagt dir an einem strahlenden Sonnentag Anfang April ein Mann mit bayerischem Akzent, „das wird gemacht.“

Rainer Klimaschewski heißt er, sitzt mit weißem Haupt und im schwarzen Rollkragenpullover unter Bäumen in Lichtenberg, und dass er gerade Joseph Teller, den Vater der Wasserstoffbombe, zitiert, solltest du als Omen nicht allzu ernst nehmen. Es ist bloß ein Satz aus der Vorhölle des Pragmatismus. Klimaschewski hat sein Verhältnis zur Realität geklärt, als Zukunft positiver besetzt war als heute. Er sieht keinen Grund, davon abzurücken.

Dann erhebt sich im Becken die Welle

Unbeirrt steht der 67-Jährige später in einer alten Lichtenberger Werkhalle und tippt vorsichtig auf das Display eines Steuerungsmoduls, das in seinem Edelstahlgehäuse wie ein Synthesizer aussieht. Sein Finger berührt eine Schaltfläche, auf der steht Pumpe eins.

Versonnen blickt der Weißhaarige auf den Pool herab, 8,5 mal 18 Meter misst der, und das Wasser ist so glatt, dass sich die Deckenstrahler darin spiegeln. Er tippt auf die zweite Schaltfläche: Pumpe vier. Wie ein Musiker, der Schallschwingungen in den Raum wirft, sieht Klimaschewski das Wasser sich kräuseln.

Eine Pumpe nach der anderen wird von ihm aktiviert, Wasser ergießt sich in anschwellender Wucht in das marineblaue Becken. „Noch fünf Sekunden“, sagt er und zählt im Geiste die Zeit herunter, bis sich aus dem brodelnden, gechlorten Chaos der Wirbel und Ströme eine Welle erhebt, eine richtige Welle, rund wie der Buckel eines Wals.

Pionier. Rainer Klimaschewski hat in den 60er Jahren das Flusssurfen in München für sich entdeckt und nun eine künstliche Surfwelle entwickelt.
Pionier. Rainer Klimaschewski hat in den 60er Jahren das Flusssurfen in München für sich entdeckt und nun eine künstliche Surfwelle entwickelt.

© Sven Darmer

„This is the future of Surfing“, wirbt seine Firma Citywave für das Produkt, das du erst mal für den Untergang des Surfens hältst. Denn es ist wirklich ein Produkt. Klimaschewski verkauft es und wacht über die technischen Aspekte des Deals mit einer Mischung aus Geschäftssinn und Argwohn. Du fragst dich, ob es okay ist, der Natur eines ihrer reizvollsten Geheimnisse zu stehlen und auf Knopfdruck verfügbar zu machen. Nimmt das dem Ganzen nicht alles, worauf es ankommt?

„Ohne Paddeln hat man 80 Prozent des eigentlichen Surfens nicht“, wird dir einer, der es wissen muss, sagen. Afridun Amu, Wahlberliner, Profisurfer, wird dir erklären, dass man aus dieser Welle nicht herauskatapultiert und von ihr vorwärts geschoben werde wie im Meer, sondern dass sie wie ein Laufband im Fitnessstudio funktioniert.

Nicht, dass Amu unbedingt die Mühen des Paddelns bräuchte, um Spaß zu haben. Aber er weiß noch nicht, was ihm diese Berliner Welle bringt. Hilft sie ihm, eine Olympiamedaille zu gewinnen?

Das Wasser ist eine Bühne

Die Welle in Berlin ist eine der größten, die Klimaschewski bislang „gebaut“ hat. 13 sind es immerhin schon weltweit. Erst, wenn er nach einer Testphase all die Komponenten aufeinander abgestimmt hat, die zu einer „schönen Welle“ führen, kann er sagen, ob sie ihn zufrieden macht.

„Es braucht viel Zuwendung, damit sie richtig steht“, sagt er. „Wasser ist ein sensibler Baustoff.“ Über die Komponenten spricht er nur ungern. Die Sehnsucht nach der perfekten Welle ist zu einem international heiß umkämpften Markt geworden. Noch hat er einen kleinen Vorsprung.

Obwohl die Entwicklung künstlicher Surfwellen erst in jüngster Zeit schnell voranschreitet, reichen die historischen Wurzeln weit zurück. Als erster Wavepool darf die Venusgrotte Ludwigs II. gelten, einst König von Bayern und einigermaßen verrückt. Er ließ 1876 einen Wellenapparat konstruieren, der ihn mit der Illusion einer unterirdischen Meeresdünung mitten in der oberbayerischen Landschaft beschenkte. Famoser Vorläufer aller Wellenbäder, von denen das weltweit erste 1929 ebenfalls in Bayern gebaut wurde.

Für die Venusgrotte nahe des Schlosses Linderhof ließ König Ludwig II. von Bayern eine Wellenanlage konstruieren, um die Dünung des Meeres zu imitieren.
Für die Venusgrotte nahe des Schlosses Linderhof ließ König Ludwig II. von Bayern eine Wellenanlage konstruieren, um die Dünung des Meeres zu imitieren.

© picture alliance / dpa

Zum Surfen war das nichts. Der erste Surfer-Pool entstand 1969 in Arizona und war etwas vermessen Big Surf getauft worden. Die Welle war weniger als einen Meter hoch, für die Dauer von sechs Sekunden war Surfen auf ihr möglich. Als man zwanzig Jahre später erneut daran ging, Wellen-Arenen zu konstruieren, wurden die Becken größer und spektakulärer, nur die Wellen nicht.

Künstliche Welle – erstmals 2005 in Nordspanien

Erst 2005 entstand mit Wave Gardens in Nordspanien eine surfbare Welle, die höher war und länger lief. Es folgten 2011 Abu Dhabi, Dauer zehn Sekunden, 2015 Wales, zwanzig Sekunden, und im selben Jahr in Fresno, Kalifornien, eine Welle von 45 Sekunden – Kelly’s Wave.

In einem Video ist Kelly Slater, elffacher Weltmeister und über Jahrzehnte bester Surfer der Welt, zu sehen, wie er die Welle zum ersten Mal erblickt, auf deren Makellosigkeit er zehn Jahre hingefiebert hat, wie er die Arme ausstreckt, als empfange er einen Segen, und fassungslos meint: „Oh, mein Gott!“

Er surft sie dann auch. Schlägt anfangs ein paar Haken und taucht immer wieder ein in die gläserne Röhre, die sich so gleichmäßig und verlässlich um ihn schließt, dass er wie unter einem Baldachin aus Wasser Schutz zu suchen scheint.

Für William Finnegan, Autor der Surfer-Biografie „Barbarentage“ und seit frühester Kindheit von Wellen besessen, ist Kelly’s Wave Ausdruck einer unstillbaren Sehnsucht nach der „perfekten Welle“. Sie in einem künstlich angelegten Becken zu erleben, durch das sie alle vier Minuten mit der Pünktlichkeit eines Güterzuges rollt - und tatsächlich auch von einem Zug mit seitlich durchs Becken pflügenden Schwertern erzeugt wird -, stellt für Finnegan deshalb eine Zeitenwende dar: „Es fühlte sich an, als wenn sich etwas grundsätzlich geändert, als wenn Technik, so unwahrscheinlich es auch erschienen sein mochte, die Natur überholt hat.“ Seine Reportage im „New Yorker“ trug den Titel „Schockwelle“.

Kelly's Wave. Dass eine künstliche Welle von solcher Schönheit je von Menschen gemacht werden könnte, galt lange als unmöglich. Doch auf der Surf Ranch im kalifornischen Lemoore haben Investoren um Kelly Slater ein flaches Becken gebaut, durch das im Vier-Minuten-Takt ein Zug mit einer Art Schneepflug fährt.
Kelly's Wave. Dass eine künstliche Welle von solcher Schönheit je von Menschen gemacht werden könnte, galt lange als unmöglich. Doch auf der Surf Ranch im kalifornischen Lemoore haben Investoren um Kelly Slater ein flaches Becken gebaut, durch das im Vier-Minuten-Takt ein Zug mit einer Art Schneepflug fährt.

© imago/ZUMA Press

Die Skepsis gegenüber dieser amphibischen Innovation, die Surfen von der Küste ins Landesinnere verlegt, ist in der Szene groß. Du musst dir nur Surfer-Filme wie „Step Into Liquid“ ansehen, um zu wissen, warum. Surfer suchen nicht nach der Welle an sich, wie perfekt sie auch sein mag. Sie arrangieren sich überall auf der Welt mit den miesesten Bedingungen. Hauptsache, sie können ein paar Augenblicke lang das Hochgefühl des Gleitens erleben.

Was wird aus dem Surfen?

Und miese Bedingungen müssen kein Nachteil sein. Kelly Slater wuchs in Florida auf, wo es große Wellen nicht gibt. Er nutzte die wenigen Sekunden, die ihm im Schwell von Cocoa Beach blieben, um so viele halsbrecherische Manöver in eine Welle hineinzulegen wie möglich. Die kleinen Wellen machten ihn zu einem Großen.

Deshalb mögen viele Surfer nicht, was mechanische Retortenwellen wie auf Slaters Surf Ranch mit ihrem Sport, ihrem Lebensstil und ihrem Stolz anstellen. Wie lange werden die alten Maßstäbe noch gelten? Was wird aus den Geschichten, die Surfer so sehr lieben?

Was wird aus den Exzentrikern, „denen es irgendwie gelingt, das System zu überlisten und mitten im Leben zu bleiben, während all die anderen landeinwärts zogen und Steuern bezahlten“, wie es in Kem Nunns Kultroman des Surfens „Giganten“ heißt. Werden die überfüllten Surfspots noch voller? Und was soll das Ganze überhaupt?

Eine "zweite Disziplin" des Surfens

Wellen sind gebremste Energie. Doch sie synthetisch herzustellen, ist schwierig. "Wasser ist ein sensibler Baustoff", sagt Wellendesigner Rainer Klimaschewski.
Wellen sind gebremste Energie. Doch sie synthetisch herzustellen, ist schwierig. "Wasser ist ein sensibler Baustoff", sagt Wellendesigner Rainer Klimaschewski.

© KM

Einer, der dir das erklären kann, ist Julius Niehus, ein schlanker, hoch aufgeschossener Mann von 28 Jahren, der selbst im Sweatshirt elegant und kreditwürdig aussieht. Der auf der Website des Wellenwerks verbreiteten Legende nach stolperte Niehus mit seinen Surf-Kumpels vor vier Jahren aus einem Flieger in einen nasskalten Berliner Novembertag, Flipflops an den Füßen und den Sand eines fernen, tropischen Strands zwischen den Zehen. Und sofort war der Frust da. Sollte es das nun wieder gewesen sein?

Die Wahrheit ist komplizierter, setzt sich aus etlichen solcher Momente zusammen. Aber Tatsache ist, dass Niehus dich nun in eine alte Lagerhalle führt, in der Handwerker Monate vor der geplanten Eröffnung damit beschäftigt sind, ein Betonfundament herzurichten.

Du sollst dir vorstellen, wie ein Stahlgerüst in die Halle gestellt wird, das als Wanne dient und tausend Kubikmeter fasst. Du sollst dir darüber eine Ebene denken, mit Holz beplankt, und wie man von diesem Surfdeck ins Freie treten und später in einem Biergarten sitzen können soll.

25.000 Surfer in Berlin

25.000 Surfer soll es angeblich in Berlin geben. Niehus meint damit Leute, die mindestens einmal pro Jahr surfen gehen. Hier solle der Ort entstehen, „an dem sich die Szene manifestieren kann“.

Sicher, es ist immer noch Lichtenberg. Aber mit ein bisschen Fantasie kannst du die ragenden Plattenbauriegel auf der anderen Seite der Landsberger Allee für weiße Klippen halten. Der Verkehr rauscht wie Meeresbrandung. Du stellst dir Surfer vor, die Bier und Burger bestellen, während sich unter ihnen eine Pfütze bildet. Nirgends dürfte man schneller von der Welle zur Bar gelangen.

Und dann ist auch noch Publikum da, wenn du deine Bogen schlägst. An Wellen dieser Art, die es in München und Köln bereits gibt, betrage das Verhältnis von Surfer zu Nichtsurfer Niehus zufolge 1:6 bis 1:10.

„Ich möchte das Meer nicht kopieren“

Das ist für Klimaschewski ohnehin das Beste an seiner Idee. Er hat von Anfang an mitbedacht, dass die Welle eine Bühne ist, nur eben meistens zu weit von den Zuschauerplätzen entfernt. Er wollte ihr ein Theater errichten.

Skrupel, dass er das Schöne am Surfen damit zerstören könnte, kamen ihm nie. „Ich möchte das Meer nicht kopieren“, sagt er. Vielmehr sieht er mit dem Surfen in der stehenden Welle eine „zweite Disziplin des Surfens“ entstehen. Die habe mit dem Soulsurfertum der klassischen Ära nichts mehr gemein und werde ihm deshalb nicht schaden, meint Klimaschewski.

Was du aber nicht glaubst.

Denn natürlich wird es neue Helden und neue Geschichten geben, die mit einem neuen Vokabular erzählt werden und sich an ein neues Publikum wenden. Wer Kelly Slater war, wissen künftige Neoprenkids vielleicht nur noch, weil sie ihn als Pionier des Farm-Surfens kennen. Deren Saat wird das alte Surfer-Narrativ ersetzen, wonach jeder seine eigene Welle finden muss, die Welle deines Lebens, und wenn du spät dran bist, suchst du lange und verzweifelst.

Der 360-Grad-Sprung war sein Ding

Klimaschewski musste nicht suchen. Seine Welle lag quasi vor der Haustür, als er vom Allgäu seiner Kindheit nach München kam. Aber ernst nahm er sie nicht. Eine Handvoll Hippies traf sich Ende der Sechzigerjahre auf einer Wiese im Münchner Stadtteil Thalkirchen, Floßlände genannt, weil Flöße diesen Nebenkanal der Isar hinabtrieben.

An einer sich verjüngenden Stelle schießt das Wasser über eine Betonrampe in ein tiefer liegendes Becken, sodass sich eine Welle bildet. Und Klimaschewski spricht von einem „Wundererlebnis“, sich hier auf einem Brett hin- und herzubewegen.

Er war Anfang zwanzig und angehender Elektroingenieur. Unter denen, die sich nachmittags zum Surfen trafen, war er der Techniker, fragte sich: „Wie macht man es, dass die Welle schön wird?“

Sie begannen damit zu experimentieren, dass sich einer von ihnen am Rand des Stroms ins Wasser stellte. Der Widerstand warf einen Wulst auf. Dann lernten sie, dass auch der Wasserstand des Sees im unteren Bereich Auswirkungen auf die Welle hatte.

Mühseliges Experimentieren

„Eine stehende Welle ist ein filigranes Gebilde. Wie sie sich bildet, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Von der Wassermenge, die von oben kommt, dem Widerstand, der das Wasser bremst, doch der Grenzbereich zwischen Gischtwalze und glatter Welle ist eng. Er bewegt sich auch immer.“

Also gingen Klimaschewski und seine Surferfreunde zu dem Mann, der stromaufwärts das Wehr bediente.

„Lass doch mal mehr Wasser runter!“

„Kann ich nicht. Die machen damit Strom.“

Haben sie ihm eine Kiste Bier gebracht. „Okay, ruft’s mich halt an, wenn ihr da seid, lass’ ich mehr Wasser runterlaufen.“

Die Welle wurde besser. Aber es funktionierte nur, wenn der Pegel des unteren Beckens hoch stand. Auch dessen Abfluss regulierte ein Wehr. Da war keiner. Haben sie also ein Brett reingestopft, was sie nicht durften.

„Ein 360-Grad-Sprung war mein Ding“

So wurde das „stationary wave riding“, wie es heute heißt, an einem Münchner Wehr geboren. Konnte natürlich sein, dass irgendwo noch andere junge Leute ebenfalls auf einem Fluss surften, aber davon bekamen sie in München nichts mit, weil Surf-Magazine von obskuren Beschäftigungen dieser Art nicht berichteten. Surfen, das war etwas, das man normalerweise im Meer tat.

Aber das war nicht der Grund, warum Klimaschewski es nicht so ernst nahm. Im Allgäu war er auf Skiern aufgewachsen, und als mit den 68ern alle möglichen gesellschaftlichen Konventionen aufbrachen, wurde er zu einem Pionier der Freestyle-Revolution. „Ein 360-Grad-Sprung war mein Ding“, sagt er. 1978 wurde er Trickski-Europameister, wie das damals hieß.

Ein Mädchen namens Susi Schmidl wurde Weltmeisterin. So lernten sie sich kennen. Bis heute sind sie ein Paar in allen Belangen. Anfangs veranstalteten sie Freestyle-Events auf mobilen Pisten und Schanzen, die sie in Städten errichteten. Sie wurden zu Spezialisten für temporäre Schnee- und Wasser-Arenen, bauten Wettkampfstätten etwa für Stefan Raab.

Und weil sich Klimaschewski dabei eine gewisse Expertise in der Konstruktion von Wasserbassins erwarb, ließ ihn eine alte Idee nicht los: die künstliche Welle.

Geburtsstätte des Flusssurfens. Die Eisbachwelle im Englischen Garten ist längst zur Touristenattraktion geworden. Hier surfen Münchner selbst bei eisigen, winterlichen Temperaturen.
Geburtsstätte des Flusssurfens. Die Eisbachwelle im Englischen Garten ist längst zur Touristenattraktion geworden. Hier surfen Münchner selbst bei eisigen, winterlichen Temperaturen.

© picture alliance / Peter Kneffel

In Surf-Magazinen wurde mittlerweile von solchen Frankenstein-Wellen berichtet. Und das Flusssurfen gewann an Achtung. Um die Münchner Eisbachwelle am Haus der Kunst hatte sich ein regelrechter Kult entwickelt. Surfer aus aller Welt strebten zu diesem Spot am Seitenkanal der Isar, wo das Wasser aus einem Tunnel in den Englischen Garten schießt und über Steinen am Boden sich eine Walze bildet. Noch besser und gefährlicher als die Floßlände.

Klimaschewskis Freundeskreis hatte zur ersten Generation von Eisbachsurfern gehört. Für sie war das damals ein Anstoß gewesen, um es mit richtigen Wellen aufzunehmen. Sie planten die erste Reise nach Biarritz, zu sechst saßen sie in einem Auto, acht Surfbretter auf dem Dach, 17 Stunden nonstop. „Beim ersten Mal war die Faszination gigantisch, das Erfolgserlebnis sehr gering. Weil es eben doch was anderes war, mit der Dynamik der Wellen im offenen Wasser umzugehen.“

Anstrengendes Paddeln

Surfen ist anstrengend. Du musst hinauspaddeln, bis dir die Arme schmerzen, die Schultern brennen vor Anspannung, du musst das Weißwasser überwinden, das als schäumende Walze auf dich zurollt und an den Strand zurückdrückt. Du musst durch Wellen hindurchtauchen, das Brett wieder einfangen, das dir in dem Durcheinander wegrutscht.

Du musst Luft holen, schluckst Salzwasser, die Augen brennen. Und dann ist da noch die Schwierigkeit, den richtigen Moment für den Drop zu erwischen, den Sprung in die Welle.

„Dann waren wir endlich hinausgepaddelt“, erinnert sich Klimaschewski, „aber hundert andere Surfer waren schon da.“

Der Adrenalin-Kick, das ist seine Sache nicht

Für ihn persönlich, erzählt er, war es nicht erstrebenswert, sich der Wucht einer Welle auszusetzen, die dreimal so hoch aufragte wie er. Der Adrenalin-Kick, das ist seine Sache nicht. Die Situation an der Drop-Zone beschreibt er deshalb als ein friedliches Idyll.

Du hörst die Vögel um dich herum, vom wogenden Meer geht eine Ruhe aus, die plötzlich dahin ist, wenn ein Set heranrollt. Du siehst das Wellenintervall am Horizont als schmalen, dunklen Riss im Wasser, und alle Surfer legen sich ins Zeug, paddeln, um die erste Welle zu erwischen.

„Aber nur einer kann sie kriegen. Das ist meistens ein Local, der immer da ist und fit. Er zischt davon. Die zweite Welle kriegt ein weiterer der Einheimischen. Und so geht das bei allen fünf Wellen, die das Set bilden.“ Und du, der du dich nicht so gut auskennst, musst warten. Du hoffst, dass das folgende Set schneller da ist als die Locals brauchen, um vom Strand zurückzukehren. Aber nein, sie sind schon wieder da, bevor es so weit ist. Bauen sich auf an der Linie und das Spiel beginnt von Neuem.

Wie der Buckel eines Wals

Es gibt oft Ärger. In kaum einem anderen Sport ist Konkurrenz so stark ausgeprägt wie beim Surfen. Die Athleten nehmen einander tatsächlich jedes Mal etwas weg – Zeit auf der Welle. Sie rauben dir Lebensfreude. Deshalb wohl ihre triumphalen Gesten, wenn die Energie der Welle verpufft. Der Triumph von Dieben.

Die nächste Frage lautet also: Wohin kannst du fahren, wo weniger Leute sind. Klimaschewski reiste nach Sri Lanka. Aber er war dann doch nicht Hippie genug, um tatenlos am Strand zu sitzen. Er dachte sich eine Welle für jedermann aus, eine, die man garantiert bekommen würde, weil es niemanden gab, der sich vordrängeln konnte. Sie würde das Problem beheben, auch wenn sie dafür vielleicht ein neues schuf.

Schnelles muss auf langsames Wasser treffen

Das Prinzip ist einfach: Die künstliche Welle entsteht, wenn schnelles Wasser auf langsames trifft. Du brauchst ein Wasserbecken, das eine Million Liter fasst, du brauchst Pumpen, die den Niveauunterschied erzeugen, sowie eine Rampe, über die das Wasser hinabschießt. Es wölbt sich auf, was in den Boden der Rampe eingebaute Floater unterstützen, die wie Bremsklappen an einem Flugzeugflügel hydraulisch hochgefahren werden. Die Kombination aus Wassermenge und deren Geschwindigkeit sowie dem Hindernis im Flussbett ergibt die perfekte Welle – eine nie abreißende Schaumfigur, eineinhalb Meter hoch, die erst „dieses Surferglühen“ erzeugt, wie Klimaschewski sagt.

2008 hat er die erste dieser Anlagen in Paris aufgebaut. Mittlerweile gibt es eine „Citywave Pro World Tour“, eine Art Supercup von Surfern, die auf stehende Wellen spezialisiert sind. Die Berliner Version hat als zusätzliches Feature, dass Luftbläschen in ihr nach oben perlen, die Oberfläche perforieren und ihr die Härte nehmen.

Alles ist besser als gar keine Welle

Auf Probe. Bei einer ersten Session im Oktober testen die Mitarbeiter des Wellenwerk-Teams die Beschaffenheit.
Auf Probe. Bei einer ersten Session im Oktober testen die Mitarbeiter des Wellenwerk-Teams die Beschaffenheit.

© KM

„Ich könnte stundenlang zuschauen“, sagt Klimaschewski bei einem der ersten Testläufe Anfang Oktober, während Niehus und andere Mitglieder des Teams Zickzacklinien in den blauschäumenden Buckel ziehen. Der Buchhalter steht zum ersten Mal auf einem Brett. Seinen Kollegen packt es gleich hin.

Der Langhaarige, der zuvor noch mit Sägespänen in den Klamotten zum Umkleiden ging, kann es am besten. Aus einer Lautsprecherbox dröhnt „Bungalow“ von Bilderbuch. „Komm’ vorbei in mein’m Bungalow / By the rivers of cash flow.“

Plötzlich ein spitzer Knall und Niehus rutscht weg. Prustend taucht er weiter hinten in der Auslaufzone auf. Sein Brett ist in die seitliche Verkleidung gekracht, eine Finne abgebrochen. Später zeigt er lachend auf eine Beule auf der Stirn. Beim Auftauchen ist ihm das Board gegen den Kopf geprallt.

Er hat ihn nicht geschützt. „Dummer Fehler“, sagt er. Niehus hat zu dieser Session ein Board mitgebracht, das er für Wettkämpfe testen will und eine Kunststoffschale hat. Ein Board mit gummierter Oberfläche und weichen Kanten wäre besser. Das Wellenwerk wird sie – wie sämtliche Surfutensilien – später an Kunden verleihen.

Seit Monaten kannst du Tickets über die Website kaufen. Dass sich die offizielle Eröffnung über den Sommer hinaus verzögert hat, entschuldigt Niehus mit den üblichen Berliner Ursachen. Handwerker seien schwer zu bekommen, für Genehmigungen brauchten die Behörden länger als erwartet, auch die technische Anlage zeige noch Kinderkrankheiten. Nun wird es am 22. November soweit sein, das Wellenwerk wird eröffnet.

Berliner haben keine Wahl

Weil du wissen willst, welchen Effekt die künstliche Welle auf die Berliner Surfszene haben wird, gehst du zu Été in der Bergmannstraße. Ausgerechnet hier, im kulturellen Zentrum Kreuzbergs, befindet sich der Surfer-Shop, betrieben von Joscha Jancke. Er lebt mehr vom Surf-Lifestyle als vom Verkauf von Neoprenanzügen.

Auch er findet, dass Berlin und Surfen sich ausschließen. In seiner Not hat er es mal mit der Heckwelle eines schweren Motorboots versucht. Während es seine Bahnen auf der Havel zog, vollführte er ein Tänzchen auf dem Kamm, immer bemüht, bloß nicht den Anschluss zu verlieren.

Der Bringer war es wohl nicht. Wenn du es auf die Welle geschafft hast, bist du so dicht am Auspuffrohr, dass dich der Gestank umhaut. Ganz zu schweigen vom Lärm des Motors. Und fällst du, braucht es ewig, bis man dich wieder aufpickt. Ok, du musst nicht paddeln. Und du musst keine Locals fürchten, die dir irgendwas streitig machen.

Notlösung. Bisher waren Surfer in Berlin auf die Heckwellen von Motorbooten angewiesen, um überhaupt auf dem Brett gleiten zu können.
Notlösung. Bisher waren Surfer in Berlin auf die Heckwellen von Motorbooten angewiesen, um überhaupt auf dem Brett gleiten zu können.

© Été Surf Team

Trotzdem sei die Nachfrage nach Brettern und Zeugs, das nur echte Surfer brauchen, in den vergangenen Jahren gestiegen, sagt Jancke. Welchen Effekt die Lichtenberger Welle haben werde?

Für Wettkämpfe, sagt Jancke, seien die Abläufe und Tricks einander zu ähnlich. Da sich die Welle kaum verändere, gebe es keine Variationen. Und er meint: „Wer nur auf einer solchen Welle steht, kann nicht surfen.“

Das bringt dich zu Afridun Amu, den Profi mit afghanischem Pass, 32 Jahre alt, studierter Jurist, der mit einem Skateboard durch den Neuköllner Schillerkiez rollt. Sein Ziel: das Tempelhofer Feld. Dort, auf einem besonders feinporigen Teil des Asphalts, legt er bunte Plastikhütchen in einer Schlangenlinie aus. Der Parcours soll eine Welle auf Sumatra symbolisieren.

Board mit Achse

Unter den Füßen hat Amu ein spezielles Board mit drehbarer Vorderachse, das für Surfer konzipiert ist und ihnen an Land dieselben Bewegungsmuster wie im Wasser abverlangt. Und schon umrundet Amu die Hütchen mit weit ausholenden, kraftvollen Schwüngen, wie er sie auch in der Welle vollführen würde.

Nämlich Gewicht nach Vorne verlagernd und Fahrt gewinnend, zurück schwenkend in die Wand aus Wasser, an ihrer Kante ein radikaler Dreher und ab in die Tiefe. Downslide, Bottom Turn, Snap und Barrel…

Trockenübung. Afridun Amu braucht nicht unbedingt Wasser, um zu trainieren. 2020 will er bei den Olympischen Spielen in Tokio antreten – für Afghanistan.
Trockenübung. Afridun Amu braucht nicht unbedingt Wasser, um zu trainieren. 2020 will er bei den Olympischen Spielen in Tokio antreten – für Afghanistan.

© Mike Wolff

Das sieht ein bisschen exzentrisch aus an diesem sonnigen Vormittag in der Weite des Flugfeldes. Aber mit jedem Durchlauf werden die Bewegungen geschmeidiger. Und darum geht es. Er, der erst nach dem Abitur mit 19 Jahren zum Surfen kam und später die glorreiche Idee hatte, einen afghanischen Surfverband zu gründen, um an den olympischen Spielen in Tokio teilnehmen zu können, arbeitet an diesem Herbsttag an den Details seiner Motorik. Hier kann er immer dieselbe Bewegung einstudieren, die sich vom Kopf ausgehend über die Schulter, den Schwungarm, das Becken nach unten durch den Körper fortpflanzt. Im November nimmt er an den Asienmeisterschaften in China teil. Er will es wissen.

Deshalb trainiert er als erster Ozeansurfer auf der stationären Welle. Bislang, sagt er, habe die den Nachweis nicht erbracht, dass sie auch seinesgleichen nützlich sei. Ihr fehle quasi „das Gütesiegel“.

Als er sie zum ersten Mal zweieinhalb Stunden ausprobiert, hat er danach Muskelschmerzen in den Oberschenkeln, was ihm im Meer nie passiert. Es fühlt sich an, als habe er auf einem Snowboard gestanden. Und noch ein Effekt stellt sich ein: Er macht schnell Fortschritte.

Wiederholungsdrang. Auf der stehenden Welle kann Afridun Amu einzelne Bewegungsmuster akkurat einstudieren. Das soll ihm auf dem Meer helfen.
Wiederholungsdrang. Auf der stehenden Welle kann Afridun Amu einzelne Bewegungsmuster akkurat einstudieren. Das soll ihm auf dem Meer helfen.

© Mike Wolff

„Ich kenne keine Disziplin, in der man so langsam vorankommt, wie beim Surfen“, sagt er. Die meisten Leute, die nicht regelmäßig üben können, würden es deshalb bald wieder aufgeben. Du schluckst den ganzen Tag Salzwasser, ohne ein einziges Erfolgserlebnis. Und am nächsten Tag sind die Wellen vollkommen anders. Dem nachzujagen, bedeute, sagt Amu, nie Befriedigung zu erlangen. „Man denkt sich stets, dass man noch eine Welle erwischen muss, eine bessere, höhere, saubere.“

In der Geschichte des Surfens nimmt die Diskussion um die vollkommene Welle von jeher großen Raum ein. Teils aus Prahlerei, teils aber auch, weil sie ein so großes Versprechen ist. Als unübertroffenes Ideal galt lange die sich gleichmäßig pellende Barrel, die zwei kalifornische Surfer in dem Dokumentarfilm „The Endless Summer“ 1966 in Südafrika entdeckt zu haben glaubten. Oder ist die niederschmetternde Majestät von berühmten Wellen mit klingenden Namen wie Pipeline, Cloudbreak oder Teahupoo an großen Tagen besser, wenn die Winterstürme des Nordpazifik ihre Energie in 10-Meter-Brechern entladen? Das geschieht nur alle zehn Jahre mal. Bedeutet Perfektion, dass eine Welle Seltenheitswert besitzt?

Welle, die man an- und ausschalten kann

Die stehende Welle kann man an- und ausschalten wie einen Lichtschalter. Sie ist immer da. Und immer gleich. Sie richtet sich nach dir, passt sich deinen Fähigkeiten an, läuft niemals aus. Sie ist ein Fluss ohne Steine, Wirbel und Lokalmatadore, die dir das Leben schwermachen. Ein perfektes Spielzeug für eine Gegenwart des anstrengungslosen Vergnügens. Es geht nicht mehr um eine Welle, der du nachjagst, sondern um dich. Du musst perfekt werden.

„Für mich“, sagt Robert aus dem Wellenwerk-Team, „ist Surfen damit überhaupt erst Sport.“ Und Julius Niehus prophezeit, dass es „einen Messi des Surfens“ geben werde, einen Meister des Minimalismus, und es werde nicht mehr Kelly Slater sein. Und du versuchst dich mit dem Gedanken zu trösten, dass die Welle im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit vielleicht keine Aura mehr besitzt, aber jeder Mensch dieselbe Chance verdient hat.

„Ich kann nicht aufhören, Susi dabei zuzusehen, wie sie mit ihren 67 Jahren über die Welle surft“, sagt Rainer Klimaschewski in einem Anfall sentimentaler Begeisterung über seine Frau. Es gebe nichts Schöneres für sie. Er meint die Welle, die er geschaffen hat.

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