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Spuren der Pandemie. Auch auf dem Land herrscht Maskenpflicht.

© mauritius images / Michael Weber

Hotspot Havelland in Brandenburg: Wie die Corona-Bekämpfung auf dem Land an Grenzen kommt

Die nächste Teststelle ist 20 Kilometer entfernt, der Arzt kommt nur zweimal die Woche. Wie läuft die Pandemiebekämpfung im Havelland? Ein Besuch im Hotspot.

Als die Rede auf Berlin kommt, verdunkelt sich die Miene der Verkäuferin in der kleinen Bäckerei. „Die Berliner sollen ruhig da bleiben, wo sie sind“, sagt die Frau mit der weißen Schürze und schiebt sich eine graue Strähne aus der Stirn. Im Sommer habe es schon genug Trubel gegeben.

Wohnmobile, Camper, Radfahrer – alle waren sie in diesem Jahr im westlichen Havelland, fernab der großen Städte, nur einen Steinwurf bis zur Elbe und der Grenze Sachsen-Anhalts. „Die ganze Republik war hier“, bekräftigt ihre jüngere Kollegin. Jetzt sei wieder alles normal in Rhinow. November. Ruhe.

Auch in Rhinow, eine gute Autostunde westlich von Berlin, gibt es Corona. Wie viele Fälle genau, ist unklar. Vom Gesundheitsamt werden nur Zahlen für den ganzen Landkreis herausgegeben – und der ist groß. Die Inzidenz je 100 000 Einwohner pendelte wochenlang zwischen 60 und 70, seit ein paar Tagen liegt sie bei 160. Auch im Havelland gilt seit dem 2. November der „Lockdown light“.

Doch wie fühlt der sich an, wenn es sowieso kein Kino, kein Theater, kein Museum und keine Kneipe gibt? Wie wird über die Maßnahmen aus Berlin und Potsdam gedacht?

Nicht einmal 2000 Menschen leben hier, trotzdem ist Rhinow die größte Stadt im Umkreis von 20 Kilometern, mit zwei Supermärkten, einer Fleischerei, einer Grundschule und zwei Bäckereien. Wie macht sich die Pandemie auf dem Land bemerkbar?

„Ich spüre vom Lockdown gar nichts“, sagt Karin Voigt. Seit 40 Jahren betreibt sie ihren Friseursalon an der Durchfahrtstraße. Schon vor Corona habe man bei ihr nur einen Termin nach Anmeldung bekommen, jetzt sei dies eben eine Anordnung. Seit es beim Bäcker nur noch Kaffee zum Mitnehmen gibt, das Bistro seine Tische abgesperrt hat und die Sportvereine dichtmachen mussten, ist ihr Salon der letzte Ort, wo in Rhinow Klatsch und Gerüchte ausgetauscht werden. Was hört sie von ihren Kunden? „Der Großteil akzeptiert die Politik der Bundesregierung“, sagt Voigt. Wer bei ihr im Laden keine Maske trage, müsse sich eben selbst die Haare schneiden.

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Doch etwas Skepsis bleibt. Sie kenne niemanden mit Corona, Kundinnen und Kunden aus ihrem Salon wüssten auch nichts von Infizierten. Wie Voigt geht es in Rhinow scheinbar allen, mit denen man spricht. In einem Ort, in dem jeder jeden kennt, scheint niemand jemanden mit Corona-Erkrankung zu kennen.

Die Alten leiden unter Isolation

Voigt sorgt sich deshalb weniger vor dem Virus als vor den Folgen. Vor allem an die Alten, von denen es im Havelland überdurchschnittlich viele gibt, denkt sie. „Die meisten meiner älteren Kunden leiden unter der Einsamkeit und der Isolation.“ Sie selbst dagegen spüre die Einschränkungen auch im Privaten kaum. Gestern habe sie bis in die Nacht an der Feuerschale mit Freunden gesessen – auf Abstand, versteht sich. Ansonsten gehe es ruhig zu. November auf dem Land eben, sagt sie und zuckt die Schultern.

Man muss genau hinsehen, um die Corona-Symbole in Rhinow zu finden. Vor der Fleischerei stehen ein paar Menschen in der Kälte Schlange, auf dem Gehweg im Laub liegt eine alte Mund-Nase-Bedeckung, ein Aushang informiert über den abgesagten Martinsumzug, an den wenigen Geschäften werden Kunden aufgefordert, Abstand zu halten und Maske zu tragen.

Blick in die Vergangenheit. Früher gab es mehr Geschäfte in Rhinow.
Blick in die Vergangenheit. Früher gab es mehr Geschäfte in Rhinow.

© Felix Hackenbruch

„Macht aber nicht jeder“, sagt die Bäckerei-Verkäuferin. Manche Kunden würden sich notorisch weigern, oft habe sie anstrengende Diskussionen geführt. Ohne Erfolg. Immerhin, die Zahl der Maskenverweigerer nehme ab. Sie selbst glaubt an das Virus und seine Gefahr, hat kein Problem mit den Einschränkungen. Dann bleibe man eben mal zu Hause. „In Berlin, da meint man jeden Abend in eine Bar oder Theater gehen zu müssen. Geht doch auch ohne“, sagt sie an den Tresen gelehnt.

Berlin-Pendler werden gemieden

Vor ihr Christstollen, Kuchen, halbe belegte Brötchen und eine Plexiglasscheibe. Sie schütze sich, treffe weniger Bekannte. „Man schaut immer, wie groß die Familie ist und wo die Person arbeitet.“ Pendle jemand nach Berlin, treffe sie ihn nicht.

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Mike Lehsnau pendelt jeden Tag von Berlin in den Landkreis – um die Pandemie im Havelland zu bekämpfen. Als Ärztlicher Direktor in der Havellandklinik in Nauen ist er dafür verantwortlich, dass in der Pandemie genügend Betten und Personal für die Covid-Patienten freigehalten werden. Material muss ständig besorgt – und neue Regelungen des Robert-Koch-Instituts in der Klinik umgesetzt werden. Seine Tage sind deshalb lang geworden. Um 5 Uhr fahre er zur Arbeit, meist bleibt er bis 21 Uhr. „Die Lage ist durchaus angespannt“, sagt der Mediziner, noch sei sie aber „händelbar.“ In Nauen liegen die schwersten Covid-Fälle des Landkreises. Im Moment 23, davon vier beatmet. Tendenz steigend. Doch noch ist Platz auf der streng isolierten Covid-Station, wo 30 Patienten behandelt und sechs weitere beatmet werden können.

Ein Berliner an der Havelländer Corona-Front: Mike Lehsnau, Ärztlicher Direktor der Havellandklinik in Nauen.
Ein Berliner an der Havelländer Corona-Front: Mike Lehsnau, Ärztlicher Direktor der Havellandklinik in Nauen.

© promo

Lehsnau macht sich gar nicht so große Sorgen um die Kapazitäten. Im Notfall könne man Patienten in andere Krankenhäuser in Brandenburg verlegen. „Unser größtes Problem ist die pflegerische Besetzung“, sagt er. Covid-Patienten brauchen eine intensivere Betreuung, hinzu kommt, dass die Belastung für seine Mitarbeiter enorm ist. In der Schutzkleidung schwitze man stark, der Druck ist hoch, 20 Angestellte haben sich bislang selbst angesteckt.

Die Pandemie könnte Land-Kliniken in den Ruin treiben

Zudem kostet die Pandemie das Krankenhaus enorm viel Geld. Allein für Abstriche der Mitarbeiter und Patienten müsse die Klinik 120 000 Euro pro Monat auslegen, die Kassen zahlen davon nur einen Bruchteil. Besonders teuer für die Havellandklink: die gesperrten Betten. Planbare OPs werden aufgeschoben, Geld kann das Krankenhaus so nicht verdienen, zumal die Bundesregierung seit Oktober keine Ausgleichszahlungen mehr leistet. „Alle Krankenhäuser werden wegen der Reduzierung elektiver Maßnahmen Defizite einfahren“, sagt Lehsnau und prophezeit, dass Land-Krankenhäuser nach der Pandemie schließen könnten.

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Nicht nur in den Krankenhäusern, auch im Gesundheitsamt im Havelland ist die Lage angespannt. Und das, obwohl die vier Stellen verdoppelt wurden und 20 Soldaten der Bundeswehr aushelfen. Weitere sind angefragt, da es deutliche Verzögerungen bei der Übermittlung der Befunde gibt. „Eine Pandemie zu bekämpfen, gehört nicht zum Kerngeschäft einer Kreisverwaltung“, sagt Wolfgang Gall, Sozialdezernent im Kreis und für das Gesundheitsamt verantwortlich. Er beobachtet die anhaltende Krise mit Sorge, einige seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien unter dem anhaltenden Druck chronisch krank geworden – und mit der Afrikanischen Schweinepest nähert sich schon die nächste Seuche den Kreisgrenzen.

Krisenmanager. Wolfgang Gall führt ein überfordertes Gesundheitsamt.
Krisenmanager. Wolfgang Gall führt ein überfordertes Gesundheitsamt.

© promo

Was Gall erzählt, hört man in diesen Tagen aus vielen Gesundheitsämtern. Mit Stift und Faxpapier werde gearbeitet, der Datenschutz bremse die Nachverfolgung aus. „Aus Sicht des Kreises bringt uns die Corona-App gar nichts“, sagt Gall. Manchmal würden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stundenlang nach Telefonnummern von Kontaktpersonen fahnden.

Der Arzt kommt nur zweimal pro Woche zum Abstrich

Und es gibt Probleme, die es anderswo nicht gibt: In manchen Ortschaften im Havelland ist die nächste Teststelle 15 bis 20 Kilometer entfernt, nach Rhinow kommt der Arzt nur zweimal die Woche. Wer nicht mobil ist, muss den Bus nehmen – der nur alle paar Stunden fährt. „In Charlottenburg gibt es in einer Straße mehr Internisten als im gesamten Havelland“, sagt Gall, der selbst mal in Berlin gelebt hat. Die geringe Ärztedichte wird in der Pandemie für den Kreis zum Problem.

Dafür profitiere man von der Nähe zu Berlin. Schon mehrfach habe man besonders schwere Fälle in die Charité verlegen können. Von Ressentiments gegen Hauptstädter als etwaige Pandemietreiber halten sie in der Kreisverwaltung daher gar nichts. Als Metropolregion würden sie von der Wirtschaftskraft Berlins profitieren. „Wenn wir jetzt spalten, hätten wir schon verloren“, sagt Gall. Um den sozialen Frieden zu sichern, will man deshalb auch keine genauen Fallzahlen für die einzelnen Orte im Kreis veröffentlichen. Nur die Gesamtzahl der Fälle wird gemeldet – und die steigt. Trotz Lockdown.

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