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Einsam mit guter Verkehrsanbindung. Im Dorf Selchow wird es immer ruhiger, weil es immer lauter wird. Der Fluglärm vertreibt die Bewohner.

©  Sören Stache/dpa

„Das Dorf ist tot“: Warum der Ort Selchow verschwindet – und was der BER dafür kann

Ein 650 Jahre altes Dorf stirbt aus. Ein Grund dafür ist der neue Hauptstadtflughafen. Ein Gespräch mit dem Ortsvorsteher.

Keine andere Siedlung liegt näher am neuen Flughafen BER als Selchow. Das fast 650 Jahre alte Dorf befindet sich zwischen den Start- und Landebahnen und gehört zur Gemeinde Schönefeld. Lutz Ribbecke (59) ist Ortsvorsteher des nach Schönefeld eingemeindeten Dorfes. Von 1993 bis 2008 war er Bürgermeister von Selchow.

Herr Ribbecke, welche Erwartungen verbinden Sie mit der nun doch bevorstehenden Eröffnung des Hauptstadtflughafens?
Die theoretisch möglichen Starts und Landungen alle 45 Sekunden sind erst einmal nicht zu befürchten. Es wird schon ein paar Jahre dauern, bis die Corona-Delle beim Flugverkehr überwunden ist. Aber dass es trotzdem viel lauter wird, wissen wir hier schon seit dem halben Jahr, in dem die neue Südbahn schon einmal in Betrieb war. Da haben wir erlebt, wie viel mehr Krach wir dadurch abbekommen.

Es ist ja schon jetzt höllisch laut. Was glauben Sie, was aus Ihrem Dorf wird?
Selchow wird aussterben. Wir hatten ja mal 500 Einwohner. Jetzt sind es noch 174, von denen 100 älter sind als 60 Jahre. Einige sind schon umgesiedelt worden für den Flughafenbau, viele Häuser stehen leer. Selchow ist im Grunde nur noch ein Spekulationsobjekt.

Bedeutet das für die Leute die Chance, ihre Grundstücke so zu verkaufen, dass sie sich anderswo etwas Neues leisten können?
Ach, die Preise sind im Keller. Ich habe für mein Grundstück mal ein Wertgutachten machen lassen, extra von einem auswärtigen Gutachter, der mit dem Flughafen nichts zu tun hat. Dann hat die Flughafengesellschaft dasselbe noch mal gemacht – und die Summe, die dabei herauskam, war nicht mal halb so hoch.

Wurden Sie über den Tisch gezogen?
Der Flughafen hat vor Jahren vor allem an der Berliner Stadtgrenze Richtung Bohnsdorf haufenweise Flächen gekauft, die er nicht brauchte, aber jetzt vermarkten kann. Die lagen brach und sind billig zu erschließen. Bei uns hier müsste erst mal alles abgerissen werden, was die Sache enorm verteuern würde. Bis das lukrativ wird, sind hier alle längst in der Kiste.

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Wie viel Dorfleben ist noch vorhanden?
Die Kinder und die, die welche bekommen könnten, sind schon weg. Die Alten, die die großen Höfe haben, wollen bleiben. Ansonsten war die im letzten Jahr abgeschaffte Feuerwehr das Letzte, was wir hatten. Gut, der Seniorentreff ist noch übrig.

Das Dorffest musste wegen Corona ausfallen, das traditionelle Feuer zur Jahreswende wurde uns auch schon untersagt. Wir werden stattdessen ein Gebrauchsfeuer machen – im November, ohne Tamtam. Der Bürgermeister meinte, das müsste klappen.

Lutz Ribbecke (59) war von 1993 bis 2008 Bürgermeister von Selchow. Seitdem ist er Ortsvorsteher des nach Schönefeld eingemeindeten Dorfes.
Lutz Ribbecke (59) war von 1993 bis 2008 Bürgermeister von Selchow. Seitdem ist er Ortsvorsteher des nach Schönefeld eingemeindeten Dorfes.

© privat

Die Flughafengesellschaft hat sich über die Jahre einerseits als guter Nachbar inszeniert und andererseits die Leute teilweise mit rechtswidrigem Billigschallschutz abzuspeisen versucht. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Unser Kontakt zur Flughafengesellschaft ist gar nicht so schlecht. Aber die halten sich eben an ihren Planfeststellungsbeschluss, laut dem der Billigschallschutz ausreicht. Andere Leute wiederum haben mehrfach Schallschutzfenster bekommen und noch einen Haufen Geld obendrauf. Das spricht sich natürlich herum. Von dem Super-Schallschutz, den uns die Politik versprochen hat, ist jedenfalls nichts umgesetzt worden. Ich kämpfe seit 14 Jahren darum, wenigstens das zu bekommen, was mir zusteht.

[Endlich fertig! Aus der Dauerbaustelle BER wird ein internationaler Flughafen. Doch viele Probleme bleiben. Lesen Sie alle Beiträge zum neuen Hauptstadtflughafen auf unserer Themenseite.]

Hat Selchow nach Ihrer Ansicht auch irgendwie vom neuen Flughafen BER profitiert?
Vielleicht indirekt, indem wir das Messegelände bekommen haben, wovon wir auch finanziell profitiert haben. Aber im Laufe des Verfahrens sind wir hinten runtergefallen – selbst im Rathaus Schönefeld, wo immer nur von der Jobmaschine getönt wird.

Hätte Selchow am besten komplett umgesiedelt werden sollen wie Diepensee, das vom Flughafen komplett geschluckt und bei Königs Wusterhausen ganz neu gebaut wurde?
Wir hatten das damals vor, aber mehrere Einwohner waren dagegen, weil sie ihre Ländereien dann nicht zu so günstigen Konditionen losgeworden wären. Einzelne haben sich danach noch privat mit dem Flughafen geeinigt, aber für die anderen ist der Zug abgefahren. Wenn man sich mal anschaut, was die ganzen großen Bürgerinitiativen letztlich erreicht haben, muss man sagen: eigentlich nichts.

Falls Sie doch noch irgendwann vor dem Lärm flüchten sollten: Was würden sie von Selchow am meisten vermissen?
Die Zeiten, in denen ich hier an irgendwas hängen würde, sind vorbei. Vor zwei Jahren wurde auch noch unser Gutsschloss abgerissen. Die Brennerei, die Mühle, die Schäferei, die Ställe – alles weg. Die Ranch mit den Pferden ist noch da und die Kirche. Aber ansonsten ist das Dorf tot.

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