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Leben zerstört. Noël Martin war nach dem rechten Angriff in Mahlow vom Hals abwärts gelähmt. Doch er nutzte die ihm verbliebene Kraft für das Engagement gegen Rassismus

© Sven Kaestner/AP/dapd

25 Jahre nach brutalem Angriff von Neonazis: Mahlow benennt Brücke nach Rassismusopfer Noël Martin

Vor 25 Jahren zerstörten Jungnazis das Leben von Noël Martin. Der Ort Mahlow, in dem der Angriff geschah, erinnert mit einer Aktionswoche an Tat und Opfer.

Von Frank Jansen

Noël Martin will nur noch weg. Am Bahnhofsvorplatz in Mahlow, einem beschaulichen Ort nahe der Südgrenze von Berlin, werden Martin und seine beiden Begleiter, alle drei dunkelhäutige Briten, von dem Rechtsextremisten Mario P. mit dem N-Wort für Sklaven beschimpft. Einer von Martins Begleitern zeigt dem Jungnazi und dessen Clique den Stinkefinger. Dann steigen die drei Bauarbeiter in Martins Jaguar und fahren los.

Doch Mario P. will nicht hinnehmen, von einem Schwarzen den Mittelfinger gezeigt zu bekommen. Der Rechtsextremist springt in einen zuvor gestohlenen VW Golf, Kumpan Sandro R. kommt mit. Die beiden rasen auf dem Glasower Damm dem Jaguar hinterher.

Bei einer Brücke über die Eisenbahn steuert Mario P. den Golf auf der Gegenfahrbahn neben den Wagen der Briten. Sandro R. wirft einen mehrere Kilo schweren Stein ins Auto der verhassten Ausländer. Noël Martin schreit, er verliert die Kontrolle über den Jaguar. Der Wagen kracht in einen Baum. Die Nazis rasen weiter.

Das ist jetzt 25 Jahre her. Die Tat vom 16. Juni 1996 löste über Brandenburg hinaus Entsetzen aus. Wegen des extremen Angriffs und der grausigen Folgen.

Noël Martin wird beim Aufprall am Baum im Wagen eingequetscht. Die Ärzte können sein Leben retten, aber nicht verhindern, dass er vom Hals abwärts gelähmt ist. Wieder hat die rohe Gewalt junger Rechtsextremisten in den sogenannten Baseballschlägerjahren ein Opfer gefordert.

Schmerzhaftes Kapitel der Ortsgeschichte

Martin ist bei weitem nicht das einzige, dreieinhalb Monate später schlägt im nahen Trebbin ein Skinhead seine Baseballkeule dem Italiener Orazio Giamblanco gegen den Kopf. Giamblanco ist seitdem spastisch gelähmt. Doch Martins Schicksal war noch schlimmer. Im Juli 2020 stirbt er, gerademal 60 Jahre alt, als Pflegefall in einem Krankenhaus der englischen Großstadt Birmingham.

Mahlow erinnert sich. Diesen Mittwoch, so hat es die Gemeindevertretung von Blankenfelde-Mahlow im Februar beschlossen, wird die Brücke über die Bahnlinie nach Noël Martin benannt.

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Am nahen Mahnmal am Glasower Damm gibt es eine kleine Zeremonie. Sie ist Teil einer Aktionswoche gegen Rassismus, veranstaltet von der Gemeinde, dem Brandenburger Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, dem Verein Opferperspektive und weiteren Akteuren. Mahlow hat sich offenkundig verändert. Die Gemeinde bekennt sich zu einem schmerzhaften Kapitel ihrer Geschichte.

Nach dem Angriff auf Noël Martin hatte der damalige Bürgermeister zunächst laviert und versucht, das Problem des Rechtsextremismus kleinzureden. Das gibt es heute nicht mehr. Und der Bahnhofsvorplatz ist offenbar kein Angstraum mehr für Migranten. Rechte Cliquen sind im Ortsbild, zumindest auf den ersten Blick, nicht mehr zu sehen. Rassismus ist nicht verschwunden, wie nirgendwo, doch heute stammen in Mahlow mehr als zehn Prozent der Bevölkerung aus Einwandererfamilien. Der Ort wirkt offener als vor 25 Jahren.

„Anfänglich wurde die Tat eher verdrängt“, sagt Martin Schwuchow (SPD), seit 2019 Bürgermeister von Blankenfelde-Mahlow. Über den Verein „Bürger für Bürger“ sei dann die Aufarbeitung in Gang gekommen.

Schwuchow bedauert, selbst Martin nicht kennengelernt zu haben. Aber er war bei der Beerdigung in Birmingham. Schwuchow setzt Zeichen. Er weiß allerdings auch, dass Rassismus ein Problem bleibt. Nicht mehr so virulent wie in den 1990er Jahren, sagt er, aber latent. „Darüber muss man reden“.

Die Täter von damals haben ihre Strafen verbüßt und scheinen danach in den bürgerlichen Alltag eingetaucht zu sein. Wie andere gewalttätige Rechte aus den Baseballschlägerjahren. Mario P. ist heute 49 Jahre alt, Sandro R. ist 40. Was sie machen, ist in Mahlow nicht zu erfahren.

"Eindeutig dümmliche Ausländerfeindlichkeit"

Das Landgericht Potsdam hatte im Dezember 1996 Mario P. zu acht Jahren Haft verurteilt, Sandro R. bekam fünf Jahre Jugendstrafe. Der Vorsitzende Richter Klaus Przybilla bescheinigte ihnen in der Urteilsbegründung „eindeutig dümmliche Ausländerfeindlichkeit“.

Im Prozess hatten P. und R. herumgenuschelt und die Tat eher lau gestanden. Bei Mario P. war die Reue ein Lippenbekenntnis. Die Wartezelle im Gericht bemalte er mit Sprüchen wie „Fuck You N*****“ und „Juden und N***** an die Wand“.

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Noël Martin engagierte sich, soweit es die schwere Behinderung zuließ, gegen rechten Hass. Im Juni 2001 besuchte er Mahlow und gründete den „Noël und Jacqueline Martin-Fonds“. Seine Lebensgefährtin Jacqueline hatte ihn in Birmingham gepflegt. Zwei Tage vor ihrem Krebstod im April 2000 haben sie geheiratet.

Über den Fonds, mitfinanziert vom Land Brandenburg, wurden jungen Märkern Reisen nach Birmingham ermöglicht, um das Leben in einer multikulturellen Metropole kennenzulernen. Im Juli 2008 wurde der Fonds in eine Stiftung umgewandelt.

Zwei Jahre zuvor hatte Martin angekündigt, mit Unterstützung eines Schweizer Vereins für Sterbehilfe aus dem Leben zu scheiden. Die Behinderung und der Tod seiner Frau hatten Martin zermürbt. Doch dann kam der Lebenswillen zurück.

Die Stiftung und die Arbeit für Versöhnung waren ihm wichtig. Und 2006 gewann sein Pferd „Baddam“ das berühmte Rennen von Ascot. Im selben Jahr besuchte die Tagesspiegel-Redakteurin Annette Kögel in Birmingham den gelähmten Mann und war tief beeindruckt von dessen Mut und Offenheit.

2007 schrieb Martin seine Autobiografie fertig. Doch es kamen weitere Schicksalsschläge. Martin wurde 2012 in seinem Haus in Birmingham ausgeraubt, seine neue Lebensgefährtin verunglückte 2013 tödlich, ein Jahr später erlitt er einen Herzinfarkt. Im vergangenen Jahr war Martins Kraft endgültig aufgebraucht.

Warum wird nun eine „Noël-Martin-Brücke“ an das Rassismusopfer erinnern? Aus zwei Gründen, sagt Bürgermeister Schwuchow. „Sie ist nahe am Anschlagsort und sie ist ein Symbol. Das war Noël Martin immer wichtig, Brücken zu bauen.“

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