zum Hauptinhalt
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).

© Michael Kappeler/dpa

Update

Heikle Reise in die Ukraine: Das erwartet Scholz am Donnerstag in Kiew – diese Baustellen gilt es zu lösen

Nach Tagesspiegel-Informationen plant der Kanzler, wohl mit Macron und Draghi, einen sechsstündigen Besuch – was er im Gepäck haben könnte und was nicht.

Für Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird es ein schwerer Gang, die Erwartungen in Kiew sind groß an ihn, er muss auch Vorbehalte gegen seinen Kurs ausräumen. Er wird am Donnerstag in der Ukraine erwartet und plant ein auf rund sechs Stunden angesetztes Besuchsprogramm. 

Das erfuhr der Tagesspiegel aus zuverlässiger Quelle. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron und der italienische Ministerpräsident Mario Draghi sollen wie erwartet dabei sein, zudem könnte auch der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis an dem Besuch teilnehmen, hieß es.

[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]

Nach der Ankunft sind mehrere Treffen geplant, vor allem eine längere Unterredung mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Ein Besuch außerhalb von Kiew, etwa in dem für russische Gräueltaten bekannt gewordenen Ort Butscha, ist nach dem bisherigen Stand nicht geplant.

Allerdings gibt es auch in Berlin die Sorge, ob eine Reise der drei wichtigsten EU-Regierungschefs in die ukrainische Hauptstadt verantwortbar sei – denn der russischen Seite dürfte die möglichen Reiserouten, mit dem Flugzeug geht es ja nicht, bekannt sein.

Scholz hat stets betont, nur nach Kiew reisen zu wollen, wenn es auch konkrete Dinge zu besprechen und zu verkünden gebe. Der Kanzler wird dabei gemessen werden an folgendem Satz: „Ich werde nicht mich einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen. Sondern wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge“, hatte er Mitte Mai gesagt. Ein Überblick über die „Baustellen“.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sichert dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj eine schnelle Entscheidung zum EU-Kandidatenstatus zu.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sichert dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj eine schnelle Entscheidung zum EU-Kandidatenstatus zu.

© Janis Laizans/Reuters

Der EU-Kandidatenstatus

In Kiew erwartet man ein klares Signal, dass man das Beitrittsgesuch unterstützt. Wenn Scholz, Macron und Draghi hier lavieren, könne das vor allem einem in die Hände spielen: Wladimir Putin. So betont es die ukrainische Seite, denn es würde die bisherige große Geschlossenheit gefährden. Selenskyj hat Anfang März einen EU-Beitrittsantrag gestellt. Mehrere EU-Staaten, insbesondere in Osteuropa, unterstützen das Beitrittsersuchen. Länder wie die Niederlande, Dänemark und Frankreich standen dem Vorhaben bisher skeptisch gegenüber. Auch Kanzler Scholz äußerte sich lange zurückhaltend

Er betont, es könne keine Abkürzung für die Ukraine geben, also keine Mitgliedschaft im Schnellverfahren, er will eine Gleichberechtigung mit den Bemühungen der Westbalkanstaaten um einen EU-Beitritt. Scholz will durch eine Erweiterung einen möglichst großen demokratischen Block gegen Russland schmieden, auch das sieht er als Teil der Zeitenwende durch den Krieg.

Mit einem baldigen Kandidatenstatus für die Westbalkanstaaten will Scholz den Einfluss Russlands, Chinas sowie der Türkei in der Region zurückdrängen. Die Kommission wird wahrscheinlich am Freitag einen Empfehlung zum Kandidatenstatus für die Ukraine abgeben. Die 27 EU-Länder müssen dann zustimmen, um die Beitrittsverhandlungen zu starten, die Jahre oder Jahrzehnte dauern können.

Mehr zum Ukraine-Krieg bei Tagesspiegel Plus:

Über den Antrag werden auch die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfel am 23. und 24. Juni beraten. Scholz, Macron und Draghi könnten aber zuvor die Entscheidung schon quasi vorwegnehmen.

Das akute Problem der Ukraine

Ein Berater von Präsident Selenskyj sagt, die Ukraine brauche 1000 schwere Artilleriegeschütze (Haubitzen), 300 Mehrfachraketenwerfer, 500 Panzer, 2000 gepanzerte Fahrzeuge und 1000 Drohnen. Das Blatt scheint sich zu wenden; die Ukraine beklagt im Donbass schwere Verluste, und die Armee ist der russischen unterlegen.

Fällt der Osten der Ukraine, könnte sich der Krieg auch wieder auf die restliche Ukraine ausweiten. Doch beim größten Problem kann derzeit auch der Westen kaum helfen. Es fehlt massiv an Munition, die Ukraine benutzt vor allem 152-mm-Munition wie zu Sowjetzeiten, doch die meisten Munitionsfabriken sind zerstört.

„Wenn nicht irgendwo schnell neue Fabriken gebaut werden, die Munition en masse produziert, weiß ich nicht, woher die kommen soll“, sagt der Militärexperte Carlo Masala. Daher bleibe nur die Option, dass der Westen schnell eigene Artillerie mit dem 155-mm-Nato-Standard liefert.

Nach einer symbolischen Ukraine-Geste in Berlin, planen der französische Präsident Emmanuel Macron und Kanzler Olaf Scholz nun einen Besuch direkt in Kiew.
Nach einer symbolischen Ukraine-Geste in Berlin, planen der französische Präsident Emmanuel Macron und Kanzler Olaf Scholz nun einen Besuch direkt in Kiew.

© Michael Kappeler/dpa

Wort und Tat

Scholz gilt einigen in Kiew bereits als Ankündigungskanzler. „Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschland die Ukraine unterstützt. Er und seine Regierung müssen sich entscheiden“, sagte Selenskyj in einem Interview des ZDF, in dem er Zögerlichkeit Deutschlands bei Waffenlieferungen beklagte.

Die Bundesregierung verweist vor allem auf die nötige Ausbildung von ukrainischen Soldaten an bisher für sie unbekanntem Gerät in Deutschland. Die an den Panzerhaubitzen soll laut Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) in Kürze abgeschlossen und sieben Panzerhaubitzen 2000 aus Bundeswehrbeständen noch im Juni geliefert werden.

Wann die angekündigten vier Mehrfachraketenwerfer kommen, ist noch unklar, die etwa 50 Flugabwehrpanzer vom Typ Gepard sollen ab Juli geliefert werden. Zudem zahlt die Bundesregierung die für Ende Oktober geplante Lieferung eines Raketenabwehrsystems vom Typ Iris-T-SLM, das mit Bewaffnung rund 178 Millionen Euro kosten soll.

Die Verhandlungen hat die Ukraine selbst mit dem Hersteller Diehl geführt, der Vertrag soll in Kürze unterschrieben werden. Was es bisher nicht geben soll, sind Panzer aus Deutschland. In den ersten drei Kriegsmonaten hat Berlin Rüstungsgüter im Wert von rund 350 Millionen Euro geliefert.

Gemessen an ihrer Wirtschaftskraft haben die drei kleinen – und bei einer Niederlage der Ukraine besonders bedrohten – baltischen Staaten Estland, (220 Mio. Euro) Litauen (115 Mio.) und Lettland (200 Mio.) mit am meisten geliefert. Von der absoluten Zahl her an der Spitze liegen die USA mit rund 4,4 Milliarden Euro an Ausgaben.

Weil das Fliegen wegen der russischen Angriffe nicht möglich ist, reisen auch viele Spitzenpolitiker per Zug nach Kiew.
Weil das Fliegen wegen der russischen Angriffe nicht möglich ist, reisen auch viele Spitzenpolitiker per Zug nach Kiew.

© imago stock&people

Die Kriegsziele

Hier hat Selenkyj nun etwas gesagt, das in Berlin eher mit Besorgnis gesehen wird – wegen der Unberechenbarkeit Putins. Alle Waffenlieferungen, das hat auch US-Präsident Joe Biden klargemacht, sind von dem Ziel geleitet, dass die Ukraine ihr Territorium verteidigen kann – aber nicht russisches Territorium angreifen soll.

Selenskyjs Ziel ist es, nicht nur den Status vor dem 24. Februar wiederherzustellen, sondern auch die 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim zurückzuerobern. Wenn die ukrainische Armee entsprechende Waffen erhalte, könne sie „das Territorium befreien“, sagte er in einer Video-Ansprache. Dies betreffe nicht nur die ostukrainische Stadt Sjewjerodonezk, sondern auch „Mariupol und die Krim“.

Scholz sagt, dass Russland nicht gewinnen dürfe, er wirkt geleitet vom Gedanken, dass ein zu sehr gedemütigtes Russland am Ende zur Nuklearoption greifen könnte. Das ist sein übergeordnetes Ziel, einen Atomkrieg unter Beteiligung der Nato zu verhindern. Auch wegen dieser Abwägungen werden er und Macron gerade in Osteuropa so kritisch gesehen.

Die polnische Tageszeitung „Rzeczpospolita“ schreibt, das Negativszenario für den geplanten Besuch sei, dass Macron, Scholz und Draghi Selenskyj sagen, er solle nicht mehr an die Rückeroberung von Mariupol denken, „sondern sich langsam mit der Tatsache abfinden, dass der Frieden, auf den wir alle warten, einen Kompromiss erfordert, um Putins Gesicht zu wahren“.

Zur Startseite