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Angela Merkel und Emmanuel Macron an der Gedenkstätte bei Compiègne

© dpa/Kay Nietfeld

Ende des Ersten Weltkriegs 1918: Europa hat diese Mahnung bitter nötig

100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zeigt sich, wie dünn die Decke der Versöhnung ist. Es drohen wieder Abgrenzung und Alleingänge – ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Der Weg in die Zukunft führt über das Erinnern. Heute treffen sich in Paris 84 Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt zu einem Friedensforum. Eingeladen dazu hat Frankreichs Präsident anlässlich des Endes des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren, am 11. November 1918. Die Präsidenten der USA und Russlands und die deutsche Bundeskanzlerin werden dabei sein, und natürlich auch der österreichische Bundespräsident, wenn Emmanuel Macron seine Gäste am Arc de Triomphe zum gemeinsamen Gedenken begrüßt.

Stellen wir uns vor, am Beginn des Jahres 1914 hätten sich die gekrönten oder gewählten Repräsentanten der vier europäischen Staaten unter den genannten fünf auf einer Konferenz zur Abstimmung ihrer nationalen Interessen in Europa getroffen. Das Attentat eines serbischen Nationalisten auf den österreichischen Thronfolger am 28. Juni 1914 wäre dann kaum zur Initialzündung eines furchtbaren, in seiner Dimension bis dahin unvorstellbaren, in seiner Inhumanität geradezu perversen Krieges geworden.

Eines Krieges, in dem 20 Millionen Menschen starben, der die politische Landkarte Europas einschneidend veränderte, in dem der Keim für eine unheilvolle Saat gelegt wurde, aus der Nationalsozialismus und Faschismus sprossen und der letztlich wieder in einen neuen Krieg führte, der diesmal nicht nur Europa, sondern die halbe Welt erfasste.

Europa hat etwas gelernt

Fragt angesichts dessen noch jemand ernsthaft nach dem Sinn internationaler Konferenzen, nach der Notwendigkeit von Gipfeltreffen und supranationaler Zusammenarbeit? Der australische Historiker Christopher Clark nannte den Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Folge einer Kette von Entscheidungen, von denen keine einzige unausweichlich war, die aber in ihrer Summe und Automatik in die Katastrophe führten.

Die Akteure spielen mit dem Risiko, provozieren prahlerisch, bis die eine Entscheidung fällt, durch die eine Grenze zum Krieg überschritten wird.

Ähnliches ist auch heute möglich, etwa, wenn mit dem subversiven Eindringen camouflierter Bewaffneter in einen Nachbarstaat ein verdeckter zu einem offenen Konflikt wird, oder wenn im Grenzbereich so riskante Scheinangriffe geflogen werden, dass ein Beteiligter die Nerven verlieren könnte. 2018 wissen wir – dies ähnelt auf beunruhigende Weise der Situation von 1914 – zu wenig darüber, was in diesem Falle Absichten und Ziele Russlands sind. Hier Klarheit zu schaffen, gelingt nur durch direkte Gespräche.

Angela Merkel und Emmanuel Macron im Wagen von Compiègne
Angela Merkel und Emmanuel Macron im Wagen von Compiègne

© REUTERS/Philippe Wojazer

Europa hat das nach dem Zweiten Weltkrieg gelernt. Die Union des alten Kontinents, eine Union des Friedens, wurde aus der Einsicht geboren, man müsse das Schicksal aller Staaten so untrennbar miteinander verweben, dass Alleingänge welcher Art kaum mehr möglich sind. Das funktionierte recht gut – bis zum Beginn der Globalisierung. Inzwischen sehen die ost-mitteleuropäischen Nationen ihre Zukunft eher in der Abgrenzung.

Sie hoffen so ihre Identität besser wahren zu können. In der Auseinandersetzung über den richtigen Weg spielen längst überwunden geglaubte Traumata wieder eine Rolle. Dies zeigt, wie dünn die Decke der Versöhnung ist. An Frieden kann man sich so gewöhnen, dass man ihn nicht mehr zu schätzen weiß. Da kommt es zur rechten Zeit, dass Europa angesichts der Schlachtfelder von Verdun daran erinnert wird, dass hundert Jahre im Bewusstsein manchmal nur wie ein Tag sind.

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