zum Hauptinhalt
Olaf Scholz in der 20. Sitzung des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude.

© IMAGO/Future Image

Wortlos nach Selenskyjs Rede: Scholz und der Tiefpunkt seiner bisherigen Kanzlerschaft

Der Kanzler ist nicht der Typ für Emotionen. Nach Kriegsbeginn überraschte er, doch jetzt wachsen die Probleme. Im Bundestag verpasste er ein Momentum.

Jeden Tag sieht Olaf Scholz vom Kanzleramt aus das große weiße Zelt auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs. 400 Meter Luftlinie sind es bis zur „Welcome Hall“ des Landes Berlin für Geflüchtete aus der Ukraine. Aber der Kanzler war in drei Wochen Krieg noch nicht einmal dort, um den Menschen sein Mitgefühl auszusprechen. Es geht ans Herz, wie Frauen dort ihre Kinder trösten, die Stofftiere fest umklammert halten. Zu sehen, wie ihnen das Handy zum wichtigsten Gut geworden ist, um Kontakt zu den in der Heimat kämpfenden Männern und Vätern zu halten.

Olaf Scholz regungslos hinter seiner schwarzen Maske, dieses Bild kennen die Bürger inzwischen. An diesem Tag im Bundestag wird diese Mimik, der wortlose Kanzler zum Symbol für einen Tiefpunkt seiner bisherigen Kanzlerschaft, er verpasst ein Momentum. Die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP schaffen es zum 100-Tage-Jubiläum ihrer Koalition, ihrer Koalition dem Parlament eine schwarze Stunde zu bescheren. Vom „würdelosesten Moment im Bundestag, den ich je erlebt habe“, spricht der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen.

Dass Scholz nun weder auf die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Bundestag antwortet, noch eine neue Regierungserklärung zur Lage abgibt, ist mit den vorgebrachten Hinweisen auf Geschäfts- und Tagesordnung schwer zu begründen. Stattdessen folgen erst Glückwünsche für Abgeordnete und bald danach die Impfpflichtdebatte. Die Union unterstellt der Koalition, sich nicht den ukrainischen Wünschen und ihrer eigenen Politik zu stellen. Vom „würdelosesten Moment im Bundestag, den ich je erlebt habe“, spricht der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen.

Scholz wirkt an diesem Tag, als sei er nicht ganz auf der Höhe. Schon als Selenskyj auf dem Bildschirm erscheint, steht neben ihm Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) sofort auf, klatscht. Scholz bleibt zunächst sitzen, schaut, was andere machen, dann steht auch er zögerlich auf. Hat er die Wirkung, die diese Rede, dieses um sein Überleben kämpfenden Präsidenten, entfaltet, unterschätzt?

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]

Kein Vergleich zum Scholz-Moment am 27. Februar

Auch Scholz’ bisher stärkster Moment hängt mit diesem Krieg und dem Bundestag zusammen. Am 27. Februar kündigte er hier in einer historischen Regierungserklärung eine 180-Grad-Wende in der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik an, sprach von einer Zeitenwende.

Doch sein geplantes 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr wackelt, dafür wäre eine Grundgesetzänderung notwendig und damit eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Die Union fühlt sich aber gerade von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) nicht richtig eingebunden, fordert zudem, dass sie bei jeder Anschaffungsentscheidung, also, wie die 100 Milliarden Euro verwendet werden, eingebunden wird. Dazu wirkt die Ampel bei der Verteilung und Registrierung von Flüchtlingen überfordert, die Kritik an Innenministerin Nancy Faeser wächst auch in der SPD täglich. Hinzu kommt der Streit um Tankrabatte und weitere Entlastungen bei den Energiekosten.

Jene Regierungserklärung am 27. Februar, Scholz' bisher letzte zum Krieg, hatte das Kanzleramt beantragt. Auch jetzt hätte es auf die Koalitionsfraktionen im Vorfeld einwirken können, um einen anderen Ablauf zu organisieren. Scholz hätte als Antwort auf Selenskyj auch noch einmal darlegen können, dass Deutschland enorm viel tut, Milliardenhilfen, Waffenlieferungen, die unbegrenzte Aufnahme geflüchteter Menschen - aber dass es auch das Dilemma roter Linien gibt, wenn man nicht im Weltkrieg landen will.

Scholz schweigt - Biden kündigte nach Selenskyjs Rede Waffenlieferungen an

Es sind Tage, in denen Scholz nicht sehr führungsstark wirkt, in denen er den richtigen Instinkt vermissen lässt. Er ist in der Defensive, bis hin zu israelischen Medien wird das Gezerre und Scholz' Schweigen nach Selenskyjs Rede im Bundestag wahrgenommen. Am Tag zuvor hatte Selenskyj zum US-Kongress gesprochen, US-Präsident Joe Biden kündigte danach, anders als Scholz, rasch ein weiteres, 800 Millionen Dollar schweres Paket mit Flugabwehrraketen, Drohnen und Tausende Panzerabwehrwaffen an.

Mehr zum Ukraine-Krieg bei Tagesspiegel Plus:

Im Kanzleramt räumt man ein, dass das mindestens unglücklich wirkt. Zumindest eine kurze Debatte hätte möglich sein sollen. Die Rede ist das eine, die falsche Reaktion das andere – Letztere erhöht nun noch einmal deutlich den Druck auf Scholz. Doch der hat bisher nicht viel neues der Ukraine anzubieten. Ein Kriegseintritt der Nato komme nicht infrage, betont er. Selenskyi hat die Forderung nach einer Luftbrücke erhoben, auch um den in Städten wie eingeschlossenen Menschen in Mariupol mehr zu helfen, die Ausweitung humanitärer Hilfe wird sicher nochmal geprüft.

[Der Nachrichtenüberblick aus der Hauptstadt: Schon rund 57.000 Leserinnen und Leser informieren sich zweimal täglich mit unseren kompakten überregionalen Newslettern. Melden Sie sich jetzt kostenlos hier an.]

Kanzler Olaf Scholz und seine Regierung applaudieren dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky.
Kanzler Olaf Scholz und seine Regierung applaudieren dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky.

© Tobias Schwarz/AFP

Das Dilemma: Scholz kann über vieles, das er macht, nicht sprechen

Sein Problem: Über vieles, was die Regierung tut, kann er öffentlich nicht sprechen. Nicht über mögliche Wege zu einem Waffenstillstand oder einer Lösung, die die Unabhängigkeit der Ukraine weiter sichert.

Scholz plant nun für kommenden Mittwoch, einen Tag vor dem Nato-Sondergipfel, eine längere Aussprache zur Lage im Bundestag. Für die diplomatischen Bemühungen wird derweil Chinas Staatschef Xi Jinping als Schlüsselfigur gesehen, am Montag war der Kanzler auch beim türkischen Präsidenten Erdogan. . Scholz telefonierte zudem am Mittwoch mit Papst Franziskus. Die Ukraine appelliert an den Pontifex, zu vermitteln. Doch die Probleme fangen schon mit dem Schisma in der orthodoxen Kirche an, Moskaus Patriarch Kyrill I. unterstützt Putins Krieg.

Und bei den Waffenlieferungen soll sich auch noch mal etwas tun. Doch auch darüber spricht Scholz nicht öffentlich, auch wegen der russischen Drohungen, diese Lieferungen anzugreifen. Theoretisch könnte Deutschland laut Experten, angesichts überschaubarer Liefermöglichkeiten aus Bundeswehrbeständen, auch Waffen auf dem Weltmarkt einkaufen und der Ukraine liefern.

Polen fordert: Scholz muss nach Kiew

Scholz weiß, dass noch schlimmere Bilder aus der Ukraine kommen werden – ob dann die Linie, dass ein Öl- und Gasboykott nicht möglich sei, noch zu halten ist? Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk wünschen sich als Zeichen der Solidarität eine Reise von Bundeskanzler Scholz nach Kiew, Morawiecki war gerade erst da. Scholz' Naturell ist jedoch so gelagert, dass er Abweichungen von Plänen und Risiko nicht mag.

Er ist kein spontaner, emotionaler Mensch. Passiert etwas Schlimmes, zeigt er sich „bedrückt“. Mit Empathie richtig rüberbringen kann er das nicht.

Und genauso lief am Donnerstag die Regierungs- und Kommunikationsmaschine. Als wäre dieser Tag einer wie jeder andere, mit vielen verschiedenen Themen. Um 11 Uhr lässt Scholz über seinen Bundeskanzler-Account bei Twitter verbreiten, er danke Selenskyj für seine eindringlichen Worte - seine erste Reaktion auf die Rede. „Wir fühlen uns verpflichtet, alles zu tun, damit die Diplomatie eine Chance hat und der Krieg beendet wird."

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Drei Minuten später folgt über seinen Olaf-Scholz-Account dann noch ein Hinweis zu der nach der Selenskyj-Rede debattierten Impfpflicht: "Ich bin für eine zeitlich befristete allgemeine Impfnachweispflicht. Dafür spricht alle Erfahrung der letzten zwei Jahre. Wir alle haben jetzt lange auf vieles verzichtet. Das Erreichte dürfen wir nicht wieder aufs Spiel setzen."

Um 11.30 Uhr trifft er Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, um 14 Uhr folgt der Bund-Länder-Gipfel zur Ukraine, Flüchtlingen und Corona - auch der läuft gar nicht rund, für 19 Uhr war eine Rede zum 100. Geburtstag von Egon Bahr angesetzt.

Als er mit Stoltenberg am Mittag vor die Kameras im Kanzleramt tritt, ist es ihm wichtig, noch mal etwas zur Rede im Bundestag zu sagen - es ist jenseits von Twitter seine erste öffentliche Reaktion darauf, zweieinhalb Stunden nach der Rede: „Das Schicksal der Menschen in der Ukraine berührt uns zutiefst. Heute Vormittag sprach der Präsident der Ukraine, Selensky, mit eindrucksvollen Worten im Deutschen Bundestag. Wir stehen an der Seite der Ukraine.“ Doch des Kanzlers Problem ist, Selenskyj will mehr Taten sehen.

Zur Startseite