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Die Europäische Union plant einen Impfpass in digitaler Form, um im Sommer Urlaubsreisen zu ermöglichen.

© imago images/MiS/Montage

Debatte über Privilegien für Geimpfte: Zurück in die Freiheit – oder nicht?

Geimpfte können das Coronavirus kaum oder gar nicht weitergeben. Welche „Privilegien“ sollen sie erhalten – und was wird nicht möglich sein? Ein Überblick.

Ohne Test zum Shoppen, ohne Test und Quarantäne reisen, vielleicht ein Besuch im Restaurant: Vieles, was Corona lange unmöglich machte, könnte bald wieder möglich sein – für Geimpfte. Über Sonderrechte und Freiheiten für sie wird heftig diskutiert. Denn es gibt auch einige Probleme.

Was spricht dafür – und was dagegen?

Lange galt das Argument: Solange nicht alle die Chance zur Impfung hatten, ist es ungerecht, wenn Geimpfte „Privilegien“ erhalten. Auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) argumentierte so. „Viele warten solidarisch, damit einige als Erste geimpft werden können. Und die Noch-Nicht-Geimpften erwarten umgekehrt, dass sich die Geimpften solidarisch gedulden“, sagte er Ende 2020. Auch der Ethikrat hatte sich ablehnend zu Sonderrechten für Geimpfte geäußert.

Jetzt hat sich das Stimmungsbild geändert. Mittlerweile hat das Robert-Koch-Institut (RKI) bestätigt: Impfungen schützen nicht nur davor, an Covid-19 zu erkranken, sondern verhindern in hohem Maße, dass man das Virus weitergeben kann, ohne es zu bemerken. Spahn erklärte am Wochenende, wer vollständig geimpft sei, solle nach dem Brechen der dritten Welle ohne weiteren Test ins Geschäft oder zum Friseur können. Auch müssten Geimpfte nicht mehr in Quarantäne.

Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte schon im Januar dafür plädiert, Geimpften ihre Grundrechte zurückzugeben. Sie ist wie Spahn dafür, Geimpfte mit negativ Getesteten gleichzusetzen. FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki kritisierte im Tagesspiegel, dass nach Spahns Aussage erst die dritte Welle gebrochen sein müsste. Kubicki sieht als verfassungsrechtliche Konsequenz aus dem RKI-Befund, dass die Beschränkungen für vollständig Geimpfte „sofort“ aufgehoben werden müssten. Kubicki unterstellt Spahn, er verschleppe eine verfassungsrechtlich „saubere Lösung“, damit die Frustration der Nicht-Geimpften nicht noch größer werde.

Was sagen Staatsrechtler?

Für Staats- und Verfassungsrechtler ist klar: Nicht die Gewährung von Grundrechten muss begründet werden, sondern deren Einschränkung. „Warum sollen Menschen, die sich nicht anstecken können und auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit andere nicht anstecken, ihre Rechte nicht wie in normalen Zeiten ausüben können?“, fragt der Berliner Verfassungsrechtler Christian Pestalozza. Er betont aber: Die Wissenschaft müsse grünes Licht geben.

So hatte sich in der Vergangenheit auch Stephan Harbarth, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts geäußert. Es komme auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse an. Mit der RKI-Einschätzung ist jetzt eine Grundlage geschaffen.

Nun könnten Gerichtsverfahren anders ausgehen. In der Vergangenheit hatte es schon Klagen Geimpfter gegeben. Bekanntester Fall ist der eines Seniorenheims in Baden-Württemberg, das seine Cafeteria für Geimpfte öffnen wollte. Weil gastronomische Einrichtungen in Baden-Württemberg geschlossen sind, durfte auch die Cafeteria nicht öffnen. Das Seniorenheim bekam zunächst nicht recht, nun wurde ein Vergleich vorgeschlagen.

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Über die Corona-Verordnungen der Länder muss jetzt festgelegt werden, welche Freiheiten Geimpfte zurückbekommen – sonst könnten Klagen in nächster Zeit zunehmen. Die bayerische Landesregierung hat am Mittwoch bereits beschlossen, dass das Landesgesundheitsministerium mögliche Lockerungen für Geimpfte ausarbeiten soll – etwa Erleichterungen bei Tests.

In Israel können Geimpfte bereits wieder Restaurants besuchen.
In Israel können Geimpfte bereits wieder Restaurants besuchen.

© AFP/Emmanuel DUNAND

Wie weit das reichen wird, ist unklar. Verfassungsrechtler Pestalozza sagte, die Politik könne auch etwa Gastronomen die Möglichkeit einräumen, für Geimpfte und mit geimpftem Personal Restaurants oder Cafés wieder zu öffnen. Thorsten Kingreen, Professor für Gesundheits- und Sozialrecht in Regensburg, sieht das als heikel an: "Dass Geimpfte wieder alle Rechte haben, scheint mir außer Frage zu stehen. Sie zum Beispiel in Quarantäne zu schicken, wäre nicht zu rechtfertigen." Aber die Praxis sei "etwas komplizierter": "Sollten Geimpfte Masken ablegen dürfen, obwohl das kein Ordnungsdienst jemals nachprüfen könnte, wer sie tragen muss und wer nicht? Dürfen Gastwirte oder Läden nur für Geimpfte öffnen? Privatrechtlich gibt es aus gutem Grund Diskriminierungsverbote, und solange nicht alle ein Impfangebot hatten – das sie dann annehmen oder ablehnen können – ist der Impfstatus so wenig in der eigenen Verantwortung wie Hautfarbe oder sexuelle Orientierung."

Klar ist: Auf absehbare Zeit werden Geimpfte wohl im öffentlichen Raum Masken tragen und Abstand halten müssen. Denn etwa im Supermarkt sind Geimpfte nicht einfach von Ungeimpften zu unterscheiden – die allgemeine Maskenpflicht ließe sich kaum noch durchsetzen.

Wie funktioniert das EU-Impfzertifikat?

Eine einfachere Abfertigung bei Urlaubsflügen innerhalb der EU im Sommer – das ist das Ziel des geplanten EU-Impfzertifikats. In dem Zertifikat, das sowohl über einen QR-Code auf dem Handy als auch auf Papier verfügbar sein soll, werden den Planungen zufolge nicht nur abgeschlossene Impfungen festgehalten. Sondern auch der Nachweis über einen negativen Test oder über eine überstandene Corona-Erkrankung soll das grenzüberschreitende Reisen erleichtern, das viele EU-Bürger nach dem Ende der dritten Welle sehnlichst erwarten.

Wie sie die auf lokaler Ebene erfassten Daten über Impfungen oder Negativtests in einem einheitlichen System bündeln, ist jeweils Sache der 27 EU-Mitgliedstaaten. In Deutschland hat die Bundesregierung vier Firmen unter der Federführung des US-Unternehmens IBM mit der Entwicklung der Impfpass-App beauftragt.

IBM und Urbich haben haben die Ausschreibung der Bundesregierung gewonnen zur Entwicklung eines digitalisierten Impfpass für mobile Geräte wie Handy und Tablets.
IBM und Urbich haben haben die Ausschreibung der Bundesregierung gewonnen zur Entwicklung eines digitalisierten Impfpass für mobile Geräte wie Handy und Tablets.

© imago images/Political-Moments

Damit beispielsweise die Daten aus Deutschland in einem Urlaubsland wie etwa Griechenland ausgelesen werden können, arbeitet die EU-Kommission derzeit an einer technischen Lösung. Bis zum 1. Juni soll die Schnittstelle, für die der EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton verantwortlich zeichnet, fertig sein. Neben der technischen Seite ist aber die nötige Gesetzgebung auf EU-Ebene entscheidend, damit das EU-Impfzertifikat ab Juni tatsächlich den Start in den Urlaub erleichtern kann.

Europaparlament und Mitgliedstaaten beraten derzeit über den Vorschlag der Kommission zur Einführung des Impfzertifikats, das nach Ansicht der Brüsseler Behörde im Einklang mit der EU-Datenschutzgrundverordnung steht und auch keinen Datentransfer in andere EU-Staaten ermöglichen soll. Die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel warnte aber bereits davor, dass durch das Zertifikat innerhalb des Schengen-Raums „keine Binnengrenzkontrollen durch die Hintertür eingeführt“ werden dürften.

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Zwar wurde im Europaparlament ein Schnellverfahren für das Zertifikat beschlossen. Allerdings bleibt abzuwarten, wie zügig sich die Brüsseler Instiutionen tatsächlich einigen. Zunächst einmal wollen die EU-Mitgliedstaaten in der kommenden Woche untereinander ihre Position festlegen. Das Europaparlament hat bis Ende April für seine Positionierung Zeit. Anschließend müssen Parlament und Mitgliedstaaten noch eine endgültige Einigung über den Kommissionsvorschlag erzielen.

Auch wenn das Ziel des EU-Impfzertifikats – die Erleichterung des Reisens in Corona-Zeiten – feststeht, so liegt es im Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten, welche Freiheiten sie konkret jenen gewähren wollen, die über das Zertifikat verfügen. Die Kommission hat klargestellt, dass der Impfnachweis möglichst nicht als Freifahrtschein für Restaurant- oder Theaterbesuche genutzt werden soll.

Welche Gefahren sehen Virologen?

Der Frankfurter Virologe Martin Stürmer findet die Diskussion um eine Rückkehr zu den Grundrechten bei geimpften und getesteten Personen legitim. „Wir wollen mit dem Impfen zurück zur Normalität. Das ist unser Anker. Wenn wir das nicht umsetzen würden, wären wir selber schuld.“ Die Gleichstellung von Geimpften und Getesteten, wie es Gesundheitsminister Spahn angekündigt hatte, sei „ein Schritt, den man machen kann und sollte“. Bei beiden gäbe es ein geringes Restrisiko, sich selbst oder andere anzustecken.

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Seiner Meinung nach brauche es zunächst einen Lockdown, um die Zahlen herunterzubringen. Aber danach könnten Geimpfte und Getestete beispielsweise wieder in Restaurants, Kinos oder ins Theater gehen. Wichtig sei dabei, dass die Abstands- und Maskenregeln weiter eingehalten werden. Diese Lockerungen seien unabhängig von einem europäischen, digitalen Impfpass möglich. Dafür reiche auch der normale Impfpass.

Für einen europäischen Impfausweis ist es seiner Meinung nach wegen der Mutationen noch zu früh. Bisher hat sich zwar noch keine Variante verbreitet, bei der eine Nichtwirksamkeit mehrerer Vakzine nachgewiesen ist. Bei der „brasilianischen“ Mutante P1 reichen die Daten noch nicht aus. Doch auch hier gibt es deutliche Hinweise, dass verfügbare Impfstoffe zumindest schwere Verläufe zuverlässig verhindern. „Ich vermute, dass der Impfschutz auch dann noch reichen würde, wenn die Mutationen in Deutschland weit verbreitet werden. Aber dafür gibt es noch keine wissenschaftlichen Beweise“, sagt Stürmer.

[Lesen Sie hier einen Kommentar zum Thema: Freiheiten für Geimpfte ebnen den Wartenden den Weg.]

Wenn aber der Fall eintreten sollte, dass sich Mutationen ausbreiten, gegen die Impfstoffe nicht mehr ausreichend wirken, könnten die Privilegien für geimpfte und getestete Personen rückgängig gemacht werden. Einen digitalen europäischen Impfausweis sollte es nach Stürmers Meinung erst dann geben, wenn es ausreichend wissenschaftliche Erkenntnisse dazu gibt. „Bis zum Herbst sollten diese Daten aber vorliegen und dann kann man schauen, ob man so ein Projekt wie einen digitalen Impfausweis vernünftig umsetzen kann“, sagt Stürmer. In einem digitalen Impfpass müsste zum Beispiel auch hinterlegt sein, wie lange der Immunitätsausweis gültig ist, da Nachimpfungen notwendig sein könnten.

Welche „Privilegien“ für Geimpfte plant Berlin?

Berlins Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) hatte sich im Tagesspiegel dafür ausgesprochen, dass Geimpfte schneller ihre Freiheiten zurückerhalten, Berlin solle vorangehen. „Es gibt keinen Grund, die Einschränkungen der Grundrechte für Geimpfte aufrechtzuerhalten“, sagte sie. Die zuständige Gesundheitsverwaltung reagierte auf Tagesspiegel-Anfrage zurückhaltend: „Die Zuständigkeit für diese Fragen liegt auf der Bundesebene, das Land Berlin richtet sich nach den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts“, teilte Sprecher Moritz Quiske mit.

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Unterstützung erhielt Pop am Mittwoch von Berlins Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne): „Wir können nicht die Freiheit von Menschen beschneiden, wenn keine relevante Infektionsgefahr mehr besteht.“ Die Zeiten, in denen man die Grundrechte für alle einschränken könne, seien durch die neuesten Erkenntnissen des RKI vorbei, sagte Behrendt. „Ich erwarte deshalb, dass die Gesundheitsverwaltung zeitnah Vorschläge vorlegt, wie Grundrechtseinschränkungen für zweifach Geimpfte zurückgenommen werden können.“

Vorstellbar seien Lockerungen bei Reise- und Quarantäneregeln. „Natürlich spricht auch nichts dagegen, wenn sich zehn Geimpfte miteinander treffen“, sagte Behrendt. „Wenn wir nicht selbst reagieren, werden uns Gerichte dazu drängen.“

[Lesen Sie mehr zum Thema mit T+: Normalität, bevor alle durchdrehen - die Impferei der Älteren muss endlich belohnt werden.]

Auch Linkspartei und SPD stellten sich hinter Pops Vorschlag. Der rechtspolitische Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Sebastian Schlüsselburg, sagte dem Tagesspiegel: „Die Rücknahme von Grundrechtseinschränkungen ist kein Privileg, sondern eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit.“ Am 21.April soll es deshalb im Rechtsausschuss eine Anhörung mit Rechtswissenschaftlern und Medizinern geben. Sollten sich die Erkenntnisse des RKI bestätigen, dass Geimpfte nicht oder kaum ansteckend sind, müsste das Land Berlin umgehend reagieren.

Sven Kohlmeier, rechtspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und selbst Rechtsanwalt, erklärte: „Wer geimpft ist, braucht seine Freiheit und Grundrechte zurück, das gilt im Übrigen auch für Genesene.“ Die Hauptstadt-SPD hat unter Führung von Landeschefin Franziska Giffey einen entsprechenden Kurs dem Vernehmen nach bereits abgestimmt, will aber eine Beschleunigung des Impftempos abwarten. In Koalitionskreisen wird nicht damit gerechnet, dass Pops Vorstoß bei der Senatssitzung am heutigen Donnerstag abgestimmt wird.

[Lesen Sie hier mehr zum Thema: „Natürlich spricht nichts dagegen, wenn sich zehn Geimpfte treffen“- Berlins Justizsenator will mehr Freiheiten für Geimpfte]

Aus dem Senat hieß es aber, dass es die Erwartung gebe, dass die Gesundheitsverwaltung in der kommenden Woche erste Vorschläge präsentiert – etwa zur Lockerung der Reise- und Quarantäneregeln. Für alles andere müsse man den weiteren Impffortschritt abwarten.

Ähnlich sieht das Thomas Lengfelder, Hauptgeschäftsführer der Dehoga in Berlin. „Erst müssen wir impfen, impfen, impfen, dann können wir über Erleichterungen reden“, erklärte er. Wirtschafts- und Gesundheitsverwaltung sollten gemeinsam eine Öffnungsperspektive erarbeiten. Erste Lockerungen gibt es bereits in Berliner Alten- und Pflegeeinrichtungen. Dort sind inzwischen alle Heimbewohner, die es wollten, zweimal geimpft. Deshalb fordert nun etwa die Caritas-Altenhilfe auch eine Aufhebung der Maskenpflicht innerhalb der Einrichtungen.

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