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2016: Flüchtlinge vor der Erstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen. Die Zahl der Corona-Infektionen ist hier explosionsartig angestiegen.

© Stefan Puchner/dpa

Corona in Flüchtlingsunterkünften: Der fehlende Abstand wird zum tödlichen Risiko

In Bayern starb ein Asylbewerber am Coronavirus. In Sachsen erstritt ein Flüchtling seine Verlegung aus einer Massenunterkunft. Und jetzt?

Von Matthias Meisner

Er wurde 60 Jahre alt, hatte mehrere Vorerkrankungen und gehörte damit zu den Risikogruppen, die es besonders zu schützen galt. Ein Geflüchteter aus dem Anker-Zentrum im unterfränkischen Schweinfurt starb nach einer Infektion mit dem Coronavirus am Montagabend im Krankenhaus. Es ist der erste Corona-Tote in einer Flüchtlingsunterkunft in Deutschland.

Der bayerische Flüchtlingsrat, der den Vorgang am Mittwoch bekanntmachte, zeigte sich bestürzt - und fürchtet, dass es nicht bei einem Toten bleiben wird: „Die Realität zeigt, deutlich, dass die Unterbringung von Flüchtlingen in großen Sammelunterkünften unter Infektionsschutzaspekten eine Katastrophe ist“, erklärte sein Sprecher Alexander Thal. Die Staatsregierung solle die Flüchtlingslager schließen und die Bewohnerinnen und Bewohner schnellstmöglich in leerstehenden Hotels und Jugendherbergen unterbringen.

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Zugleich in Sachsen: Dort erstritt ein 47-jähriger Asylsuchender aus Kamerun am Mittwoch vor dem Verwaltungsgericht Leipzig (Az.: 3 L 204/20.A), dass er nicht länger in der Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge im nordsächsischen Schkeuditz bleiben muss.

Flüchtlingsrat nennt Beschluss „bahnbrechend“

Die Abstandsregelungen der sächsischen Coronaschutzverordnung, die einen Mindestabstand von 1,5 Meter verlangen, seien dort, so das Gericht, nicht einzuhalten. Der Asylsuchende selbst legte dar, dass er in der Erstaufnahmeeinrichtung, die eine Kapazität von 700 Plätzen habe, mit einem weiteren Flüchtling in einem zwei mal zwei Quadratmeter großen Zimmer untergebracht sei. Toiletten, Duschen und Küche seien zur gemeinsamen Benutzung von 50 Personen vorgesehen.

Der sächsische Flüchtlingsrat nannte den Beschluss des Leipziger Verwaltungsgerichts „bahnbrechend“. Der Freistaat Sachsen müsse nun umgehend die Massenunterkünfte mit ihren etwa 2000 Bewohnern auflösen, erklärte der Flüchtlingsrat. Spannend werde zudem sein, wie nun die Landkreise und kreisfreien Städte mit den etwa 5000 Menschen in den Gemeinschaftsunterkünften im Freistaat verfahren würden.

Medico International spricht von Rassismus

Ramona Lenz, Referentin für Flucht und Migration bei Medico International, sieht Schweinfurt und Schkeuditz in einem engen Zusammenhang. Sie kritisiert eine Geringschätzung der Gesundheit von Geflüchteten. Für den 60-Jährigen aus der unterfränkischen Unterkunft, der an Covid-19 verstarb, sei „jedes Urteil und jede Maßnahme zu spät“ gekommen.

Für andere jedoch könne der Beschluss des Leipziger Gerichts zum Asylsuchenden in Schkeuditz eine Signalwirkung haben, sagte Lenz dem Tagesspiegel: „Darauf können sich nun weitere Bewohnerinnen und Bewohner von Sammelunterkünften berufen.“

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Bei der Coronaeindämmung wird nach Einschätzung von Ramona Lenz mit zweierlei Maß gemessen: Für die einheimische Bevölkerung gelte der Rückzug in die Privatwohnung, häufiges Händewaschen und Minimierung sozialer Kontakte. Für geflüchtete Menschen in Sammelunterkünften dagegen: „Selbst die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe oder gar eine Erkrankung schützen nicht vor Unterbringung in engen Mehrbettzimmern bei ungenügenden hygienischen Verhältnissen.“

Lenz sagt weiter: „In den Krankenhäusern in Deutschland kam es zum Glück noch nicht zur befürchteten Triage, aber wenn es um die Wohn- und Hygieneverhältnisse von Einheimischen und Flüchtlingen geht, wird sie offenbar längst angewandt: Man scheint keine Probleme damit zu haben, Flüchtlinge in großer Zahl zusammen unterzubringen und deutlich stärker als die einheimische Bevölkerung einem potenziell tödlichen Virus auszusetzen.“

Und dies bei leerstehenden Hotels, Kurheimen und Jugendherbergen, in denen man die Menschen dezentral einquartieren könne. „Offenbar geht man davon aus, mit den Flüchtlingen auch die Seuche ausgrenzen zu können – ein rassistischer Trugschluss.“

Pro Asyl gibt Gerichtsbeschluss Signalkraft

Auch Pro Asyl gibt dem Leipziger Gerichtsbeschluss Signalkraft. Wiebke Judith, rechtspolitische Referentin der Organisation, erinnerte daran, dass Pro Asyl und die Landesflüchtlingsräte seit Wochen auf die höchst problematische Lage in Unterkünften mit mehreren hunderten Personen hinweisen würden, in denen Abstandsregeln gar nicht eingehalten werden könnten.

In Einrichtungen wie der Erstaufnahmeeinrichtung im baden-württembergischen Ellwangen hätten sich die Befürchtungen schon bewahrheitet und viele Bewohnerinnen und und Bewohner hätten sich angesteckt. Judith sagte dem Tagesspiegel: „Die Politik muss jetzt in Sachsen aber auch in anderen Bundesländern aktiv werden und die Menschen angemessen unterbringen. Es kann nicht sein, dass sich jede einzelne Person das Recht auf eine nicht gesundheitsgefährdende Unterbringung einklagen muss.“

Explosionsartiger Anstieg der Infektionen in Erstaufnahme Ellwangen

Schon vor gut einer Woche hatte der SWR berichtet, dass in Ellwangen 244 und damit fast die Hälfte der 567 Bewohner der Landeserstaufnahmeeinrichtung positiv auf das Coronavirus getestet worden seien.

Das Leipziger Verwaltungsgericht erläutert in seinem Beschluss, es wäre widersinnig, Asylunterkünfte aus den Geboten der sächsischen Coronaschutzverordnung herauszunehmen. Im Gegenteil, so das Gericht unter Berufung auf das Robert-Koch-Institut, könnten Asylsuchende bedingt durch Fluchtbelastungen und Neuorientierung, sogar empfänglicher für Infektionskrankheiten seien. Gerade in Massenunterkünften gilt demnach ein Ausbruch der Seuche als besonders wahrscheinlich.

Die Leipziger Linken-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel verlangte die Auflösung der Massenunterkünfte: „Auch Geflüchtete haben ein Recht auf den Schutz ihrer Gesundheit.“ In den Kommunen gebe es in Gemeinschaftsunterkünften und Wohnungen hinreichend Platz. Die Zahlen dazu hatte Nagel im Januar von Landesinnenminister Roland Wöller (CDU) erfragt. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Sachsen 3573 Plätze in Gemeinschaftsunterkünften und 4288 in Wohnungen.

Die Coronakrise hatte die Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland früh erreicht. Der erste Fall wurde Mitte März aus Heidelberg gemeldet - bei einem 48-jährigen Chinesen, der am 9. März in Begleitung eines zweijährigen Kindes in Deutschland angekommen war. Bei seiner Ankunft seien noch keine Anzeichen einer Erkrankung feststellbar gewesen.

Allein 328 Infizierte in BAMF-Unterkünften

Inzwischen liegt die Zahl der gemeldeten Fälle bundesweit im dreistelligen Bereich - Quarantäne ist für sie zwingend vorgeschrieben. Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums sagte am Donnerstag auf Tagesspiegel-Anfrage, allein aus den vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge betriebenen Unterkünften seien an 19 Orten in zwölf Bundesländern 328 Corona-Infizierte gemeldet worden.

Nicht nur einmal kam es nach der Infektion von Flüchtlingen mit dem Virus zu angespannten Situationen. Aus Suhl etwa wurden Randale und Streit gemeldet, mehrfach musste dort die Polizei geholt werden.

Hungerstreik in Halberstadt

In der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) im sachsen-anhaltischen Halberstadt wurde das Virus sogar mehrere dutzendmal nachgewiesen. Auch dort gab es Tumulte und Auseinandersetzungen mit dem Wachpersonal. Ein Teil der Asylbewerber rief sogar einen Hungerstreik aus, um auf die prekäre Versorgungssituation aufmerksam zu machen. Laut einem Bericht der „taz“ teilen sich dort bis zu sechs Geflüchtete ein Zimmer, sie waschen sich in Gemeinschaftsbädern.

Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt beobachtet Verunsicherung und Angst unter vielen Bewohnern der Massenunterkunft. Seine Sprecherin Helen Deffner äußerte in einem MDR-Interview Verständnis für die Proteste: „Die Menschen, die dort leben, bringen massiv traumatisierende Fluchtgeschichten mit. Man kann sich mal Gedanken darüber machen, was es heißt, keine Informationen zu haben, mit zu wenig Essen versorgt zu sein und die Einrichtung nicht verlassen zu dürfen.“

Den zuständigen Politikern wie Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) empfiehlt Deffner einen Perspektivwechsel: „Man darf die Augen vor der Realität nicht verschließen. Es ist nicht möglich, in der ZASt die vom Robert-Koch-Institut empfohlenen Maßnahmen – wie zum Beispiel einen Mindestabstand von 1,50 Metern zueinander – einzuhalten.“

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