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Sie hat es in den Beinen und im Kopf. Schule und Sport müsse man mit vollem Herzen wollen, sagt Saskia Feige.

© Sebastian Gabsch

Potsdamer Talente: Geherin Saskia Feige: Die Grenzgängerin

Ein Einser-Abitur und gleichzeitig erfolgreich im internationalen Leistungssport - die 20-jährige Potsdamer Geherin Saskia Feige hat das geschafft. Wie macht sie das nur?

Von Valerie Barsig

Potsdam - Saskia Feige stützt die Hände in die Hüfte und streckt ihr rechtes Bein nach vorn. Sie steht neben einer Bank auf der Zuschauertribüne im Potsdamer Stadion am Luftschiffhafen. „So“, sagt die 20-Jährige. „Das Knie ist gestreckt, der Fuß hat Bodenkontakt, die rechte Hüfte geht nach vorn.“ Saskia erklärt die Sportart, die ihr seit drei Jahren ans Herz gewachsen ist: Gehen. 20 Kilometer geht sie aktuell in einer Stunde, 33 Minuten und zwölf Sekunden. Zuletzt erreichte sie damit Anfang Mai im chinesischen Taicang bei den World Team Championships den 32. Platz und stellte die Bestzeit der teilnehmenden deutschen Frauen. Außerdem hat sie sich gerade für die Leichtathletik-Europameisterschaften im August in Berlin qualifiziert - und schrieb nebenbei ihr Abitur an der Sportschule Potsdam. Note: 1,0.

Wie schafft man das?

„Man muss es mit vollem Herzen wollen“, sagt Saskia. Sie blickt über die rote Tartanbahn und macht eine ausholende Handbewegung. Hier, das Stadion, das sei ihr Lieblingsplatz in Potsdam. Wie es dazu kam? Zur Leichtathletik brachte sie eine Freundin, sie war damals in der zweiten Klasse. Anfangs erlernte sie die Grundlagen: Springen, Werfen, Koordination. Aber am meisten Spaß machte ihr bereits damals das Laufen. „Im Werfen und Springen bin ich nicht so begabt“, sagt sie und lacht. „Im Laufen war ich gut. Fürs Sprinten hat es aber nicht gereicht, also war meine Spezialstrecke 800 Meter Distanz.“

Zu ihrem Abitur kam sie auf deutschlandweit einmalige Art

Die Potsdamerin erinnert sich gut daran, wie sie in der sechsten Klasse an der Sportschule angenommen wurde. „Hätte es nicht geklappt, wäre eine Welt zusammengebrochen. Einen Plan B gab es nicht.“ Nach einem ersten Sichtungsverfahren und einem Trainingslager kam der erlösende Brief von der Schule. „Die Erleichterung war riesig“, erzählt Saskia.

Insgesamt 64 Schüler erhalten in diesem Jahr ihr Abiturzeugnis an der Potsdamer Sportschule. Saskia hat als eine von 21 ihrer Jahrgangskollegen das sogenannte additive Abitur abgelegt, ihre Prüfungen also über zwei Jahre gestreckt. In diesem Jahr hat sie Abschlussklausuren in Psychologie und Mathe abgelegt, im vergangenen Jahr schrieb sie die in Biologie und Deutsch.

Sie geht und geht und geht. Saskia Feige legt im Wettkampf und Training viele Kilometer zurück.
Sie geht und geht und geht. Saskia Feige legt im Wettkampf und Training viele Kilometer zurück.

© privat

„Unsere Schüler reisen in der Welt umher und stehen körperlich unter hoher Belastung“, sagt Schulleiterin Iris Gerloff. Sportliche Höchstleistungen zu bringen und gleichzeitig auch in der Schule erfolgreich zu sein, das sei „ein Wahnsinnsspagat für Schüler und Schule“. Denn die Schüler verbringen in der Woche oft 20 Stunden oder mehr im Training. „Die Bildungschancen müssen aber für alle gleich sein“, sagt Gerloff. Dabei helfe das besondere additive Abitur, das seit 2011 bis zu diesem Jahr in einem von der Kultusministerkonferenz abgesegneten Modellversuch an der Sportschule abzulegen war. Im additiven Abitur konnten Schüler die zwölfte Klasse zwei Jahre lang absolvieren, um so zeitlich Sport und Lernen unter einen Hut zu bekommen. Die Prüfungen werden gemeinsam mit allen Brandenburger Schülern im Rahmen des Zentralabiturs abgelegt - nur eben nicht alle auf einmal, sondern gesplittet.

Klausuren wurden auch im Trainingslager geschrieben

In diesem Jahr läuft der Modellversuch aus. Ob und wie es mit dem Leuchtturmprojekt weitergeht, will das Bildungsministerium im kommenden Jahr entscheiden. Schulleiterin Gerloff hofft, dass es weitergehen kann, denn auch deutschlandweit seien Schulen an dem Projekt interessiert. „Wir sind damit ein Vorreiter.“ Das Modell habe sich bewährt: Etwa ein Drittel der Sportschüler pro Jahrgang habe sich in der Vergangenheit für das additive Abitur entschieden.

Für Saskia bedeutete das Modell aber, oftmals Klausuren allein abzulegen - zuletzt zum Beispiel im Januar im Trainingslager in Südafrika. „Der Trainer überwacht dann die Klausur“, sagt Saskia. Hausaufgaben und Lernkontrolltests konnte sie mit einem speziellen Lernprogramm bei ihren Lehrern in Potsdam abgeben - auch wenn sie sich gerade auf der anderen Seite der Welt befand. „In Südafrika musste ich mir allerdings erstmal eine Sim-Karte besorgen, damit ich überhaupt ins Internet konnte.“

"Die Schienbeine taten erstmal höllisch weh"

Immer ein „Sonderfall“ unter den Schülern zu sein - das wird für Saskia Feige auch im Studium so weitergehen. An der Technischen Hochschule Wildau wird sie ab dem Wintersemester Bioinformatik und Systembiologie studieren. „Ich habe bereits mit der Universität gesprochen“, sagt die Potsdamerin. Denn: Auch künftig wird sie zu Trainingslagern und Wettkämpfen müssen. Auch Einheiten bei ihren Potsdamer Trainern Manja Berger und Ronald Weigel stehen weiter auf dem Programm. „Aber zum Glück kann ich auch gut alleine trainieren. Denn außer meinen Laufschuhen brauche ich nichts.“ Dass sie das Studium in der Regelzeit schaffen wird, glaubt sie nicht. Aber dass sie es erfolgreich meistern wird, davon ist sie überzeugt. „Ich mache keine halben Sachen. Wenn ich mich für etwas entscheide, dann mache ich es auch.“

So war das auch mit der Entscheidung für das Gehen vor rund drei Jahren. Beim Laufen in der Mittelstreckendistanz von 1500 Metern kam sie nach der Teilnahme an den Deutschen Meisterschaften nicht weiter, internationale Erfolge rückten in weite Ferne. „Dann sind auch noch viele aus meiner Trainingsgruppe gegangen. Ich habe mich also auf die Suche nach etwas Neuem gemacht.“ Also nahm sie 2015 eine Woche an der Trainingsgruppe der Geher teil. Ebenso wie Laufen sei das Gehen ein Ausdauersport. Die zwei Disziplinen seien sich nicht so fern, sagt Saskia. Die Probewoche überzeugte, sie blieb. Dass sie nun im Gehen so erfolgreich ist, nennt sie einen schönen Bonus. „Auch wenn die Schienbeine erstmal höllisch wehtaten“, erinnert sie sich. Denn Muskeln und Sehnen mussten sich an die neuen Bewegungen gewöhnen. Es dauere eine Weile, bis man an dem Punkt sei, an dem man nicht mehr über die Technik nachdenken müsse.

Geschwindigkeiten von bis zu 15 Stundenkilometern

Fragt man Saskia, was ihr der Sport bedeutet, lächelt sie, wenn sie antwortet. „Man kann abschalten. Man muss einfach nicht denken, wenn man geht“, sagt sie. „Man geht 15 Kilometer oder länger in dem Bewusstsein, dass andere eine solche Strecke mit dem Fahrrad fahren.“

Trainiert wird draußen, in Potsdam geht Saskia im Training häufig am Wasser entlang. Immer im Kreis auf der Tartanbahn zu gehen, das wäre nichts für sie. „Das wäre auch psychisch nicht gut.“ Deshalb falle es ihr auch so schwer, die Schwimmer zu verstehen. „Jeden Tag die Bahnen schwimmen und Kacheln zählen“, scherzt sie. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Glücksmoment. Saskia Feige freut sich mit Teamkollegin Teresa Zurek über die gemeinsame Qualifikation für die EM in Berlin.
Glücksmoment. Saskia Feige freut sich mit Teamkollegin Teresa Zurek über die gemeinsame Qualifikation für die EM in Berlin.

© Philipp Pohle

Gehen, das wegen seiner eigenartig wirkenden Koordination oft belächelt wird, wurde 1682 erstmals im Wettkampf ausgetragen. Damals kämpften in London Geher in einem fünfstündigen Wettkampf um den Sieg. Danach entwickelte sich das Gehen in Großbritannien zu einem beliebten Zuschauersport. 1932 wurde die Sportart schließlich olympisch. Heute wird überlegt, das Gehen über eine Distanz von 50 Kilometern aus dem Programm der Weltmeisterschaften und der Olympischen Spiele zu streichen. Denn die Wettkämpfe dauern zum Teil mehr als drei Stunden und das gilt als wenig zuschauerfreundlich. Dabei ist die Leistung der Athleten durchaus beeindruckend: Sie erreichen eine Geschwindigkeit von bis zu 15 Stundenkilometern.

An der Sportschule gibt es 31 sogenannte Lehrertrainer

Saskia Feiges Spezialdistanz sind 20 Kilometer. Bis zu zweimal täglich trainiert sie, sonntags ist frei. Während ihrer Zeit in der Sportschule bedeutete das einen Unterrichtsbeginn um 7.30 Uhr. Bis 9 Uhr wurde gelernt, dann drei Stunden trainiert, dann ging es zurück in den Unterricht. Nach einem zweiten Training bis zum frühen Abend ging es an die Hausaufgaben. „Natürlich hatten wir ein bisschen weniger Hausaufgaben, aber ohne kommt man ja nicht aus“, sagt Saskia. Die Doppelbelastung sei da, aber letztendlich sei alles eine Frage der Organisation. Dabei helfen den Schülern die insgesamt 100 Lehrer der Sportschule, von denen 31 sogenannte Lehrertrainer sind. Sie sind auch in Einzelstunden für die Schüler da. In den Zeiten, in denen die Jugendlichen in Trainingslagern sind, stellen ihn die Lehrer auf der digitalen Plattform Lernstoff und Hausaufgaben zur Verfügung.

Natürlich sei man als Leistungssportlerin auch mal gefrustet, gibt Saskia zu. „Wenn andere Schüler um 14 oder 15 Uhr mit dem Unterricht fertig sind und in den Park gehen zum Beispiel“, sagt sie. Dennoch: Schule und Training hätten immer Spaß gemacht. „Und wenn ich um 9 Uhr trainiert habe, dann auch mit dem Wissen, dass zu dieser Zeit andere die Schulbank drücken“, sagt Saskia. Nur der Winter sei hart. „Dann trainieren wir in der Halle. Und da kann man schon mal einen Drehwurm kriegen.“ Bis zu 60 Runden laufe sie dann mindestens. Die einzige Abwechslung: ein Richtungswechsel.

Auseinandersetzung mit Doping-Richtlinien

Saskia Feige wohnt bis zu ihrem Umzug nach Wildau im Internat auf dem Gelände des Luftschiffhafens. So wie 400 andere der insgesamt 672 Schüler der Sportschule. Ihre Familie lebt vor den Toren Potsdams. Aus dem Internat sei der Weg ins Stadion für sie einfach kürzer, sagt sie. Selbstständig und organisiert muss man als junger Leistungssportler sein. Auch, weil man wie Saskia jederzeit auf Doping kontrolliert werden könnte. Seit anderthalb Jahren muss sie der Nationalen Anti Doping Agentur (Nada) ihren täglichen Aufenthaltsort angeben. Drei bis viermal wurde sie bereits kontrolliert. „Anfangs denkt man viel darüber nach“, sagt sie. Trotzdem hält sie die teilweise plötzlichen Kontrollen der Nada für sinnvoll. „Man sollte mit ehrlichen Mitteln kämpfen.“ Wer als Athlet gedopt sei, schade den anderen Sportlern und der Disziplin. Trotzdem musste auch Saskia Feige erst einmal dazu lernen. „Wenn ich krank bin, muss ich in der Apotheke nachfragen, ob Medikamente möglicherweise auf der Liste der verbotenen Substanzen stehen.“ Auf Proteinriegel oder Produkte mit Matcha verzichtet sie. „Und ein Blech mit Mohnkuchen würde ich auch nicht essen“, scherzt sie. Als Athlet bekomme man Lehrgänge zu den eigenen Rechten bei einer Dopingkontrolle. „Da lernt man dann zum Beispiel, dass man sich den Becher für eine Urinprobe aussuchen darf.“

Die Antidrogenprävention gehöre auch an der Sportschule dazu, sagt Schulleiterin Gerloff. Auch die Nada veranstalte regelmäßige Aufklärungsveranstaltungen. „Natürlich gibt es auch bei uns Ausreißer“, sagt Gerloff. „Wir sind eine normale Schule, wie jede andere Schule auch.“ Aber es gebe ein gut funktionierendes Netz, das greife, wenn ein Schüler über die Strenge schlage. Man sei wesentlich schneller mit den Eltern im Gespräch. „Bei uns gehört es zum System, offen zu reden. Auch mit den Schülern.“ Es gehe darum zu unterstützen und an den Verstand der Jugendlichen zu appellieren, wenn es Auffälligkeiten gebe.

Ihr großes Ziel: Olympia - spätestens 2024

Neben dem Studienabschluss hat Saskia noch ein weiteres Ziel: Olympia. „Ob es 2020 in Tokio klappt, kann man jetzt noch nicht sagen. Aber Paris 2024 ist eine realistische Chance“, meint die 20-Jährige. Olympia, das sei ein Traum. „Es hat für Athleten einfach einen besonderen Stellenwert, an den Spielen teilzunehmen.“ Sie komme nun in die Jahre, in denen sie die volle Leistung bringen könne - es sehe also gut aus. Nächstes Jahr stehe aber erstmal die U23-Europameisterschaft an, danach möchte Saskia zur Weltmeisterschaft in Qatar. Im Oktober könnte sie sich dafür qualifizieren. Denn es ist genau das, worum es Saskia Feige beim Sport geht: die eigenen Grenzen erfahren. Wie weit kommt man, wie schnell kann man werden? Kann man gewinnen?

Und wenn die Grenze irgendwann erreicht ist?

Saskia muss lachen. „Da habe ich eigentlich noch nie so genau drüber nachgedacht.“ Sie überlegt kurz. „Wenn man sie erreicht hat, weiß man ja, was man immer wissen wollte.“

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