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Potsdamer Projekt-Patenschaft: Kein Zauber im Wunderland

Bekoji im äthiopischen Hochland gilt als „Town of Runners“. Weltberühmte Läufer kommen von hier. Viele laufen dem Traum vom besseren Leben nach. Ein Hilfsprojekt vermittelt 20 Mädchen die Balance zwischen Training und Schule.

Bosa Caco ist eine kleine, zierliche Frau. Sie spricht leise, es ist eher ein Flüstern. Aus ihrem schmalen Gesicht treten die Wangenknochen kräftig hervor, sodass es die Züge hart macht. Doch manchmal legt sich ein zaghaftes Lächeln um ihre Lippen. Sie lächelt, wenn sie über ihre Kinder spricht und davon erzählt, wenn sie im Sommer nicht zur Schule müssen und zu Hause sind. Bosa Caco ist 32 Jahre alt. Sie hat sechs Kinder. Vier Mädchen und zwei Jungen.

Sie leben im äthiopischen Hochland der Arsi-Berge, gut drei Autostunden südlich der Hauptstadt Addis Abeba. Drei runde Lehmhütten reihen sich hinter einem Bretterzaun aneinander. In der größten Hütte bedecken frische Eucalyptusblätter den Boden, ein breites Bettgestell mit einer Matratze darauf füllt fast ein Drittel des Raumes aus. Der Qualm von der Kochstelle verfängt sich unter dem runden Dach. Es riecht nach Kaffee und Popcorn. Durch die offene Tür fällt der Blick auf einen kleinen Ausschnitt der Arsi Mountains. Im Tal der Bergkette liegt der kleine Ort Bekoji. Ein Film des englischen Regisseurs Jerry Rotthwell hat Bekoji vor einigen Jahren als „Town of Runners“ bekannt gemacht. Die preisgekrönte Dokumentation erzählt vom Traum zweier Mädchen, erfolgreiche Läuferinnen zu werden. Er erzählt den scheinbar immer gleichen afrikanischen Wettlauf gegen die Armut in ein besseres Leben. Die immer wiederkehrende Geschichte, die wenig mit dem Bild vom Wunderläufer zu tun hat, das Fernsehkommentatoren gern bedienen, wenn ostafrikanische Athleten mal wieder Fabelzeiten gelaufen sind. Von Wundern ist das Leben in Bekoji so weit entfernt wie der Horizont hinter den Arsi Mountains.

"Laufen macht mich glücklich"

Auch Bosa Cacos jüngste Tochter Fatuma läuft. Früh am Morgen, kurz vor sechs, lässt das 13-jährige Mädchen die Hütten und den Bretterzaun hinter sich. Sie läuft über die Felder bis zu einer breiten, staubigen Straße, an deren weit entfernten Ende eine Moschee zu sehen ist. Dort beginnt Bekoji. Vor dort hat es Fatuma nicht mehr weit bis zur Schule oder zum Trainingsplatz. Eine Stunde braucht sie für den Weg. Für sie ist es eine Stunde des Glücks, „denn Laufen macht mich glücklich“, sagt sie. Sie hat den gleichen Namen wie Fatuma Roba, die berühmte äthiopische Läuferin, die als erste afrikanische Frau Afrikas vor 16 Jahren einen olympischen Marathon gewann und aus der gleichen Gegend kommt. „Und dort hinten ist Kenenisa aufgewachsen“, sagt das Mädchen Fatuma und zeigt über die Felder. Kenenisa Bekele, der Weltmeister, Weltrekordler und Olympiasieger, dessen Namen hier niemand aussprechen kann, ohne glänzende Augen zu bekommen.

„Die besten Läufer kommen von ihr“, sagt Bosa Caco. „Kenenisa“, flüstert sie und lächelt. Sie nickt mit dem Kopf nach draußen, wo die Sonne im März und April besonders heiß über den abgeernteten Feldern brennt. Ackerbau prägt die ländliche Gegend um Bekoji. Im Frühjahr schmiegen sich die kurz geschorenen Grasweiten wie ein welliger Teppich bis an den Rand der Berge. Zum November verwandeln sie sich in goldene Weizenfelder. Das Leben hier auf dem Land schlägt in einem gleichbleibenden Takt: Felder bestellen, säen, reifen und warten, ernten.

Die Predigt von Coach Sentayehu

Im Stadion von Bekoji wird früh am Morgen der Rhythmus diktiert durch klatschende Hände und wirbelnde Füße, wenn ein Bataillon von Läufern sich für das Training aufwärmt. Etwa 20 000 Einwohner leben in Bekoji. „300 sind Läufer“, sagt Edeshu Sentayehu. „Vielleicht sogar 500.“ Der 65 Jahre alte Mann wird nur „Coach“ genannt, egal wer mit ihm oder über ihn spricht. Die Olympiasiegerinnen Derartu Tulu, Tiki Gelana oder Tirunesh Dibaba sind in ihren Kinder- und Jugendjahren durch seine Schule gegangen. Er hat das Talent von Kenenisa Bekele geformt. Wie ein Feldherr steht Sentayehu auf der sandig-steinigen Laufbahn, auf der die jungen Läuferinnen und Läufer in kaputten Turnschuhen oder Plastiksandalen ihre Runden drehen, gewohnt an den knochenharten Untergrund und die dünne Luft in 2500 Metern Höhe. Der Coach hat alle im Blick. In der einen Hand hält er eine Stoppuhr, in der anderen einen Schreibblock, vollgeschrieben mit Zahlen und Notizen. Nach dem Training werden sich die Läufer vor ihm ins Gras setzen, aus der Ferne wird der Ruf eines Muezzins zu hören sein und sie werden der Predigt des Coaches lauschen. Hier im Stadion ist Laufen die Religion. Sentayehu steht vor seinen Läufern und ermahnt sie, ordentlich zu essen, ausreichend zu schlafen, auf eine gute Körperhygiene zu achten und auch mal die Laufsachen zu waschen. „Ihr braucht mehr Disziplin“, sagt Sentayehu.

Fatuma weiß, was er meint. Vier Mal in der Woche trainiert und lernt sie mit 19 anderen Mädchen, die etwa so alt sind wie sie. Die Gruppe gehört zum Hilfsprojekt „Girls Gotta Run“ (GGTR), einer Stiftung aus den USA, die vor sieben Jahren gegründet wurde. Zunächst unterstützte „Girls Gotta Run“ professionelle Läuferinnen in Bekoji mit Schuhen, Laufsachen, mit Geld für Lebensmittel und Wettkampfreisen. „Inzwischen ist das Programm viel umfassender“, sagt Stiftungsdirektorin Kayla Nolan. Statt ungewisse sportliche Karrieren zu fördern, verfolgt „Girls Gotta Run“ einen breiteren Ansatz. Laufen ist dabei der Schlüssel, um den Mädchen den Blick auf mehr Möglichkeiten zu öffnen: Nicht nur durch sportlichen Erfolg kann man ein besseres Leben haben, viel wichtiger sind ein Schulabschluss, eine gute Gesundheit, ein guter Ehemann. „Es geht uns nicht vorrangig darum, aus den Mädchen professionelle Läuferinnen zu machen“, sagt Kayla Nolan. „Das wäre zu wenig.“

Das frühe Ende der Kindheit

Das Projekt finanziert sich ausschließlich durch Spenden. 600 Dollar im Jahr werden für ein Mädchen benötigt, um neben der Schule die Sozialarbeiter, Trainer und Essen zu bezahlen. Neben dem normalen Unterricht und dem Lauftraining gehören wöchentliche Workshops zum GGTR-Programm, in denen die Mädchen Fähigkeiten für ein selbstbestimmtes Leben als Frau lernen. In den Kursen wird ihnen vermittelt, was eine gute Partnerschaft ausmachen sollte, wie man sich vor HIV schützt, welche Rechte es für Frauen gibt, was gesundes Essen ist, was zur Körperpflege gehört. Sie werden aufgeklärt über die Folgen von Beschneidung und Kinderheirat.

Säen, warten, ernten. Fatumas Mutter war fast noch ein Kind, als sich der Takt ihres Lebens änderte. Mit 15 verheirateten sie ihre Eltern mit einem zehn Jahre älteren Mann, kurz danach wurde sie das erste Mal schwanger. Zwangs- oder Kinderheiraten sind in Äthiopien verboten, doch vor allem in den ländlichen Regionen weit verbreitet. Als vor zwei Jahren Mitarbeiter der Enhancing Child Focused Activities (ECFA), einer nichtstaatlichen Organisation, in der Arsi Provinz um Bekoji den Gründen und Folgen der Zwangsheiraten nachgingen, notierten sie erschreckende Zahlen: 15 Prozent der zur Heirat gezwungenen Mädchen waren jünger als zwölf Jahre. Fast jedes zweite Mädchen war gerade 14 Jahre jung. Die körperlichen, psychischen und seelischen Folgen der Zwangsehen durch sexuelle Gewalt, Misshandlungen, viel zu frühe Schwangerschaften und Geburten sind für die Mädchen und jungen Frauen grausam. Laut der ECFA-Studie sind Geburtsverletzungen vor allem bei zwangsverheirateten Frauen weitverbreitet, weil sie meist ohne medizinische und fachkundige Hilfe und viel zu früh gebären. Die Folgen der Komplikationen sind sogenannte Geburtsfisteln – eine bleibende Öffnung zwischen Blase und Scheide. Die betroffenen Frauen leiden für den Rest ihres Lebens an schwerster Inkontinenz, meist werden sie von ihren Ehemännern und Familien verstoßen, sodass sie verarmen und vereinsamen.

Einkommen reicht für eine Mahlzeit am Tag

Fast am Ende ihres Schulweges kommt Fatuma am Haus ihrer Freundin Bedusha vorbei. Auch Bedusha lernt und läuft mit „Girls Gotta Run“. Sie lebt mit ihrer Mutter und ihren vier Geschwistern in einer engen Hütte am Rande der Stadt. Keines ihrer Kinder hat Obse Harasa in einer Klinik zur Welt gebracht. Das jüngste ist vier Monate alt. „Ich wünsche meiner Tochter, dass sie eine erfolgreiche Läuferin wird“, sagt Obse Harasa. 30 Jahre ist sie alt. Ihr Wunsch nährt sich aus ihrem eigenen Schicksal. Nach der dritten Klasse hat sie die Schule verlassen. „Meine Eltern verstanden nicht, warum ich weiter lernen sollte“, erzählt sie. „Später haben sie mich gedrängt zu heiraten.“ Da war sie 16. Ein Jahr danach bekam sie Bedusha. Nach dem vierten Kind hat ihr Mann sie verlassen. „Er lebt jetzt mit einer anderen Frau zusammen“, sagt Obse Harasa. Sie versuche ihr Bestes, kocht und putzt für andere Leute, auf dem Markt verkauft sie Bastschalen. 600 Birr verdient sie im Monat (25 Euro). Das reiche für eine Mahlzeit am Tag für sie und die Kinder. Einmal in der Woche trifft sie sich mit anderen Müttern des GGTR-Projektes. In einer Art Crowdfunding-Gruppe wird ihnen erzählt, wie sie selbstständig Geld verdienen können. Einige fertigen Bastkörbe, die sie auf dem Markt verkaufen. Andere gehen kochen oder putzen. Einen Teil des verdienten Geldes stecken sie bei jedem Treffen in eine kleine Holzschachtel. 700 Birr – gut 30 Euro – zählt der gemeinsame Sparfonds nach etwa einem Jahr. Wer ein paar Birr für Schulkleidung oder für eine Geschäftsidee braucht, beantragt bei der Gruppe einen Kredit. „Anfangs fiel es mir nicht leicht, das Geld wegzugeben“, sagt Obse Harasa. Inzwischen ist sie froh zu lernen, wie sie selbst etwas Geld verdienen und dieses anlegen kann.

Die andere Seite ihrer Hoffnung hat Namen. „Wir reden über Kenenisa und Tirunesh“, sagt Obse Harasa. „Ich weiß, dass viele gute Läufer von hier kommen.“ Es klingt, als wolle sie an einen guten Zauber glauben, der über Bekoji liegt und die Läufer des Ortes schnell macht. „Ich verstehe nichts von Sport. Ich weiß nicht, was man machen muss, um gut zu werden.“ Doch sie sehe, dass ihre Tochter sich verändert hat, seit sie vor einem Jahr für „Girls Gotta Run“ ausgewählt wurde. „Es ist gut für ihre Gesundheit, sie ist kräftiger geworden, durch das gute Essen, das sie in der Schule bekommt“, sagt die Mutter. „Und sie lernt besser.“

Viele laufen, nur wenige schaffen es

Als Abebe Bikila 1960 barfuß in Rom den olympischen Marathon gewann, wurde der Sieg zum Signal für einen ganzen Kontinent, dem noch immer in großen Scharen gefolgt wird. Aber die Auslese ist hart und nicht ohne Folgen. Viele Talente brechen in der Hoffnung auf sportlichen Erfolg die Schule ab, wenn sie es zu einem der staatlich unterstützten regionalen Laufklubs schaffen. Unterricht gibt es dort nicht, häufig fehlt es den Klubs an Geld. Doch sind sie die erste Stufe eines staatlichen Systems auf dem Weg zum National Club nach Addis Abeba. Dorthin schaffen es die wenigsten. Vor allem Mädchen und junge Frauen kehren dann nicht nach Hause zurück aus Scham, versagt zu haben, und aus Angst, als Belastung gesehen zu werden. Mitunter endet für junge Frauen der Traum vom sportlichen Ruhm auf den Straßen von Addis Abeba.

Die Bekoji Elementary School direkt an der Hauptstraße ist die älteste Schule im Ort. Seit 75 Jahren wird hier unterrichtet. Hinter den flachen, bunten Schulgebäuden erstreckt sich ein riesiger Sportplatz. Coach Sentayehu hat hier als Lehrer begonnen. Für das GGTR-Projekt wurde auf dem Schulgelände eine eigene Küche gebaut: eine kleine Wellblechhütte, die liebevoll Lunchbox genannt wird. Dort wird für die 20 Mädchen nach dem Training gekocht: Pasta, Reis, Injera – das Hauptgericht des Landes: ein säuerlich schmeckender Fladen aus Teff-Getreide, das wegen seines hohen Gehalts an Eisen und Mineralien als äthiopisches Super Food gilt. Die Lebensmittel werden aus dem GGTR-Spendenaufkommen finanziert, für die Mädchen sind es die wichtigsten Mahlzeiten des Tages.

Erfolge im Sport und in der Schule

„Sie alle kommen aus Familien, die besonders arm sind“, sagt Schuldirektor Tolossa Takluu, der bei der Auswahl der Mädchen geholfen hat. Es gab viel mehr Bewerbungen als die 20 Plätze. „Die Mädchen sollen ein gutes Teamwork entwickeln, sich gegenseitig helfen und ermutigen“, sagt er. Er erzählt, dass bei Schulwettkämpfen 15 der 20 Mädchen gewinnen. „Und im Unterricht sind sie viel cleverer geworden.“ In den Noten-Rankings am Ende des vergangenen Schuljahres waren alle 20 GGTR-Mädchen unter den Top 10.

Wenn Fatuma lächelt, ähnelt sie ihrer Mutter. Sie hat ein sanftes, weiches Gesicht und ihre Augen glänzen. „Vielleicht werde ich eine gute Läuferin“, sagt sie. „Oder ich werde Ärztin.“

Peter Könnicke ist Mitarbeiter der Potsdamer Neuesten Nachrichten und Mitinhaber der Lauf- und Fitnessschule gotorun in Potsdam. Er reist regelmäßig nach Äthiopien, wo er sich für Hilfsprojekte engagiert.

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