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Den Tränen freien Lauf lassen. Der Druck war enorm für Sebastian Brendel. Er war der Gejagte. Umso größer die Erleichterung nach der Siegerehrung.

© dpa

Olympia 2016: Gold für Kanuten vom KC Potsdam: Der Brendel-Wirbel

Der Kanute Sebastian Brendel vom KC Potsdam paddelt in Rio wie schon 2012 zu Olympia-Gold. Dabei plagten ihn zuvor plötzlich Schmerzen im Rücken.

Rio de Janeiro/Potsdam - Eine Stunde vor dem großen Rennen drohte alles zu scheitern. Sebastian Brendel lag auf der Pritsche zur Behandlung, das ersehnte Gold war in weite Ferne gerückt. Beim Warmpaddeln hatte der Kanute einen stechenden Schmerz im Rücken verspürt, nach „ein paar komischen Schlägen“ auf dem ungewohnt welligen Wasser der Lagoa Rodrigo de Freitas. Der Potsdamer ist normalerweise die Ruhe selbst, seit 2013 hatte er kein Rennen mehr im Kanadier-Einer über 1000 Meter verloren. Doch am Dienstag wurde selbst Brendel nervös. „Der erste Gedanke: Warum ausgerechnet heute?“, sagte er. Ein bisschen mehr als eine Stunde später weinte Sebastian Brendel. Er stand auf dem Siegerpodest, die deutsche Nationalhymne lief. Er hatte es geschafft, wieder einmal.

Brendel war der Gejagte

Sebastian Brendel ballte die Faust und schrie alles heraus: die Anstrengung, den Druck, vor allem aber die Freude. Zum zweiten Mal nach London vor vier Jahren wurde der 28-jährige Potsdamer am gestrigen Dienstag Olympiasieger im Einer-Canadier über 1000 Meter. Er war der Top-Favorit, seit drei Jahren auf seiner Paradestrecke ungeschlagen. Er war der Gejagte. „Der Druck ist schon riesig“, hatte der Modellathlet des KC Potsdam vor dem Finale gestanden. Doch als der Startschuss im Lagoa Stadion von Rio de Janeiro ertönte, ließ Brendel keinen Zweifel aufkommen, wer nach rund 240 Paddelschlägen als Erster im Ziel sein würde. Er fuhr ein perfektes Rennen.

Sein erster Gratulant ist gleichzeitig seit Jahren sein härtester Widersacher: Der Brasilianer Isaquias Queiroz, angetrieben von der heimischen Kulisse, lag nach 250 Metern in Führung. Der Brasilianer hatte den Deutschen schon oft am Rand der Niederlage, diesmal wurde er auch noch von den „Brasil, Brasil“-Rufen der Landsleute auf den Tribünen nach vorn getrieben. Schon Wochen vor dem olympischen Rennen hatte Brendel betont, dass der Heimvorteil des Brasilianers kein Nachteil für ihn sei. „Für mich ist das kein Problem, auch wenn die Zuschauer ihn besonders laut anfeuern“, sagte er. Denn er hatte sich auch taktisch bestens vorbereitet: „Ich habe ihn am Anfang nicht wegfahren lassen wie sonst, ich habe immer Kontakt gehalten." Je näher das Ziel rückte, umso mehr wuchs die Zuversicht bei Brendel. Kein Kanute hat einen ähnlich starken Schlussspurt wie der 28-Jährige vom Kanu Club Potsdam. „Die letzten 100 Meter ich hab im Augenwinkel gesehen, dass er nicht mehr vorbeikommt“, sagte er, „da habe ich mich schon kurz vor der Ziellinie richtig gefreut.“

Sieg mit einer halben Bootslänge Vorsprung

Brendels Stärke war so dominant, dass Queiroz nach dem Rennen überhaupt gar nicht in Verlegenheit kam, mit seiner Silbermedaille zu hadern, im Gegenteil: Er freute sich riesig und hüpfte vergnügt zur Siegerehrung. Mit einer halben Bootslänge Vorsprung – fast anderthalb Sekunden – hatte Sebastian Brendel gewonnen. „Das ist Wahnsinn, ich habe so lange dafür gearbeitet“, sagte der nunmehr zweifache Olympiasieger. Die großen Emotionen setzten dem 1,92-Meter-Hünen bei der Medaillenzeremonie sichtlich zu. „Ich habe mit den Tränen gekämpft und um Fassung gerungen“, schilderte Brendel.

Dass der Potsdamer überhaut paddeln konnte, hatte er Michael Faulstich zu verdanken. Der Physiotherapeut nahm sich des Olympiasiegers von London nach dem Malheur beim Warmpaddeln an. „Er hat mich im Lendenwirbelbereich behandelt, da war alles total fest“, sagte Brendel später. „Es tut auch immer noch weh.“ Das Kneten zeigte aber zumindest temporär Wirkung, Brendel war fit für das große Rennen, auf er vier Jahre hingearbeitet hatte. „Im Rennen waren die Schmerzen in den Armen dann doch größer als die im Rücken.“

Verbandspräsident Thomas Konietzko: "Du bist mein Kanu-Held"

„Er hat eine Generation, eine Epoche geprägt. Er ist schon jetzt in den Fußstapfen von Birgit Fischer angekommen“, befand der deutsche Verbandspräsident Thomas Konietzko mit Blick auf die achtmalige Olympiasiegerin vom KC Potsdam. Der Vergleich mit der Kanulegende war dem Geehrten sichtlich unangenehm. „An ihre Erfolge werde ich nie herankommen“, sagte Brendel. „Irgendwann wird der Tag kommen, an dem es nicht mehr klappt. Aber heute hat es noch einmal geklappt.“ Doch im Augenblick des Erfolges lobte Konietzko weiter: „Ich habe vorhin zu ihm gesagt: Du bist mein Kanu-Held. Ansonsten fallen einem zu Sebastian kaum noch Superlative ein.“

Die Erfolge der deutschen Rennkanuten wurden getrübt von der großen Trauer um den Tod von Slalom-Trainer Stefan Henze. „Vielleicht sind wir heute auch alle ein bisschen für Stefan gepaddelt“, konstatierte Brendel. Er widmete seinen Triumph zu einem Teil auch Henze, der am Montag nach einem Verkehrsunfall in der vergangenen Wochen in Rio an seinen schweren Verletzungen gestorben war. Dass Henze als Trainer des Slalombereichs mit dem davon losgelösten Rennsport-Team um Brendel im Alltag wenig zu tun hatte, konnte den Schmerz nicht lindern. „Die Nachricht geht an keinem spurlos vorbei“, sagte Brendel.

Überraschend ließ er Spekulationen über ein baldiges Karriereende aufkommen. „Nächstes Jahr paddele ich auf jeden Fall noch. Dann werde ich entscheiden, wie es danach weitergeht“, kommentierte er. Eine Fortsetzung seines olympischen Kräftemessens wird es indes in Rio geben. Im Canadier-Zweier mit Teampartner Jan Vandrey will er erneut aufs Podium. Die Vorläufe in dieser Klasse stehen am Freitag an, das Finale soll am Samstag ausgetragen werden. „Mit dem Erfolg im Rücken fährt es sich jetzt leichter“, konstatierte Brendel. (mit Christian Hönicke und dpa)

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