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Sport: „Kökös“ Kanu muss heute warten

Potsdams erster Olympiasieger feiert heute seinen 65. Geburtstag an der Wiege seiner größten Erfolge

Eigentlich wollte er heute über den Templiner See paddeln. Von seinem Haus auf Hermannswerder aus quer über die Havel zum Luftschiffhafen, wo er heute feiert und gefeiert wird. Jürgen Eschert lässt es aber sein. „Sonst tippen sich noch einige Leute an die Stirn“, sagt Potsdams erster Olympiasieger.

Eschert begeht heute seinen 65. Geburtstag und wird Rentner. Trotzdem sollte niemand glauben, dass er deswegen jetzt die Hände in den Schoß legt. Das kann er nicht, das will er auch nicht. „Ein Leben als Rentner kann ich mir nicht vorstellen“, meint der Jubilar, der noch zu agil für das Altenteil ist. „Aber hier und da ein bisschen kürzer treten werde ich künftig wohl doch.“ Aus dem Versicherungsunternehmen, in dem er in den letzten zehn Jahren tätig war, ist er bereits ausgeschieden, die Geschicke des Kanu- Clubs Potsdam – dessen Motor er seit der Gründung ist – will er nach und nach in jüngere Hände legen. „Irgendwann“, erklärt er, „muss es auch ein Leben nach Jürgen Eschert geben.“ Seine Frau Christiane hört’s mit Wohlgefallen.

Ob das überhaupt geht? Das fragt sich mancher Wegbegleiter, der miterlebte, wie der einstige Weltklasse-Paddler nach der Wende einerseits dem Potsdamer Kanurennsport als Manager neues Leben einhauchte und dadurch neue internationale Triumphe ermöglichte. Und wie Eschert andererseits Visionen verwirklichte, durch die seine Heimatstadt neue Attraktionen bekam. Die Potsdamer Wasserspiele – die 2005 über 5000 Gäste hinterm art’otel vereinten – erleben am 3. September ihre mittlerweile zehnte Auflage, und der in diesem Jahr zum zweiten Mal ausgetragene Kanalsprint in der Yorckstraße hat ebenfalls das Zeug zu einem Publikumsmagneten und Dauerbrenner. Nun will der gebürtige Magdeburger, der als Zwölfjähriger erstmals ein Paddel in die Hand nahm und auch heuer noch über Potsdams Gewässer paddelt – oft im Einer-Canadier kniend wie bei seinem im Endspurt erkämpften Olympiasieg 1964 in Tokio –, noch ein Projekt verwirklichen: eine „Kanu- Scheune“ im Luftschiffhafen, „gedacht als Haus des Sports für die leistungstragenden Vereine unserer Stadt“, so der Potsdamer.

Entstehen soll das Domizil der „Potsdamer Sportfamilie“ an fast der gleichen Stelle, an der das alte Bootshaus stand, in das die Kanuten 1963 nach dem Umzug des ASK Vorwärts von Leipzig nach Potsdam einzogen. Dort reifte Eschert zum Olympiasieger, dort besuchte ihn Christiane danach oft mit Töchterchen Antje im Kinderwagen, dort machte sich der Kanute nach weiteren Erfolgen auch große Hoffnungen auf einen Start 1968 in Mexiko – allerdings vergeblich. „Beim letzten großen internationalen Test in Moskau gewann ich zwar als einziger aus der DDR-Mannschaft, aber die Funktionäre ließen mich – weil vorher schon so beschlossen – trotzdem zu Hause“, erinnert er sich. „Damit entging mir möglicherweise ein zweiter Olympiasieg, denn hinterher hörte ich von anderen Teilnehmern, dass ich als Linksschläger beim damals herrschenden Wind beste Chancen gehabt hätte, zumal mir die Höhe lag.“ Bis 1971 paddelte der gelernte Modelltischler, dann stoppte ein T-Shirt mit US-Flagge, das er von einem US-Kanuten geschenkt bekommen hatte, seine Karriere. „Ich musste damals während der WM-Qualifikation in Brandenburg sofort die Regattastrecke verlassen; nass, wie ich vom gerade beendeten Rennen war“, weiß Eschert noch heute. Nach einer schriftlichen Eingabe an Staatschef Erich Honnecker hätte er als Leistungssportler weitermachen dürfen, doch er wurde nun lieber Trainer; seine Ausbildung zum Diplom-Sportlehrer befähigte ihn dazu. Und auch als Coach zeigte er, was in ihm steckt, denn 1974 wurden seine Schützlinge Peter Müller und Wilfried Stephan Junioren-Europameister im Zweier-Canadier sowie Uwe Freese EM-Zweiter im C1.

Doch im Jahr darauf erlitt Escherts Lebenslauf erneut einen Knick: Da er mit Detlef Lewe, einem Canadierfahrer aus dem bundesdeutschen Schwerte, gegen den er sich 1964 in der innerdeutschen Olympia-Qualifikation durchgesetzt hatte, weiterhin in Verbindung stand, erhielt der Coach wegen „Westkontakts“ die sofortige Kündigung. „Heute lacht man darüber, aber damals war das eine extrem schwere Zeit. Das ständige Abholen und die Verhöre bei der Stasi zehrten mächtig an meinen Nerven“, weiß der Potsdamer, der anschließend als Sportlehrer an der Ingenieurschule für Bauwesen in Potsdam tätig war, zu erzählen.

Der Kontakt mit dem zwei Jahre älteren Lewe, der 1972 bei der Olympia-Eröffnungszeremonie die bundesdeutsche Fahne ins Münchner Stadion trug, ist bis heute nicht abgebrochen, im Gegenteil: Der Olympia-Zweite von Mexiko und dreifache Weltmeister will heute Eschert persönlich die Hand schütteln; am künftigen Standort der „Kanu-Scheune“, wo der Jubilar eine große Schar Gratulanten mit Ministerpräsident Matthias Platzeck an der Spitze erwartet. Platzeck, seit Jahren Freund und Förderer der Potsdamer Paddler, weiß von Escherts Beharrlichkeit zu berichten: „Wenn sich Jürgen Eschert einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, klopft er so lange an, bis man ja sagt “ Diese Beharrlichkeit dürfte der Kanu-Chef auch heute an den Tag legen, denn seine jüngste Idee wartet noch auf ihre Verwirklichung. „Das Projekt Kanu-Scheune muss noch entwickelt und eingereicht werden, dabei sind wir derzeit“, erzählt Eschert. „Meine Geburtstagsfeier will ich auch dazu nutzen, bei den Entscheidungsträgern der Stadt um Sympathie für unser Vorhaben zu werben.“

Auf einen seiner heutigen Geburtstagsgäste hat sich Eschert besonders gefreut: auf Zoltan Vaszary aus Budapest. Der ein Jahr ältere Ungar mit dem Spitznamen „Kökö“ gehört seit Jahrzehnten zu seinen Freunden und logiert während seines Potsdam-Aufenthalts daheim beim Jubilar. Er half, als es dem Potsdamer nach seiner Kündigung als Trainer schlecht ging, „und er hat mir noch viel beigebracht“, gesteht Eschert. „Kökö war früher selbst aktiver Kajakfahrer und dann 40 Jahre lang Technischer Direktor des Ungarischen Kanuverbandes, ehe er im vergangenen Jahr in Pension ging“, weiß der Potsdamer zu berichten. „Es ist vor allem auch sein Verdienst, dass Ungarn im Kanurennsport so leistungsstark geworden ist. Er ging völlig neue Wege und ich habe oft in seiner Wohnung gesessen und von ihm gelernt. Beispielsweise, wie man Regatten organisiert, wie man seinen Sport vermarktet und wie man erfolgreich mit Sponsoren umgeht.“

Aber nicht nur das: Vaszary baute und schenkte ihm 1975 nach seinem Rauswurf aus dem Armeesportklub in Budapest auch einen weißen Canadier, den der von der DDR-Sportführung Verstoßene mit nach Potsdam brachte. Mit diesem Canadier paddelt Jürgen Eschert immer noch gern über die Havel. Heute allerdings nicht.

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