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Pionier der Potenzialanalyse. Urs Granacher arbeitet mit seinen Potas-Kollegen an einem neuartigen System zur Ermittlung von Erfolgschancen.

© Tobias Gutsche

Deutsche Spitzensportreform: „Höhere Wahrscheinlichkeit für Erfolg, aber keine Garantie darauf“

Als Mitglied der Potas-Kommission versucht der Potsdamer Urs Granacher, Spitzensport-Deutschland wieder zu mehr Medaillengewinnen zu verhelfen. Im Interview spricht er über mangelnden Rückhalt für Leistungssport, eine Drei-Klassen-Gesellschaft und Kritik an den Neuerungen.

Von Tobias Gutsche

Herr Granacher, wie definieren Sie Potenzial?

Potenziale sind in der Sportwissenschaft seit 30 Jahren ein großes Thema. Aber bislang konnte keine wissenschaftlich fundierte Lösung im Zusammenhang mit der Potenzialabschätzung bei der Talentidentifikation und -entwicklung gefunden werden.

Insofern steht Ihre Kommission vor einer riesigen Herausforderung. Schließlich wird von Ihnen erwartet, ein Potenzialanalysesystem, kurz Potas, aufzubauen.

Richtig. Was wir machen, ist nichts anderes als Pionierarbeit. Das gab es in dieser Form noch nicht. Wir betreten einen neuen Pfad.

Potas ist eine wichtige Säule in der geplanten deutschen Spitzensportreform. Zunächst grundsätzlich gefragt: Warum braucht unser Land so eine Reform?

Ich würde das aus zwei Sichtweisen heraus argumentieren. Die erste ist ganz eindeutig. Wenn wir uns den Trend der Medaillenentwicklung bei den Großereignissen Olympische Sommer- und Winterspiele anschauen, dann ist seit Beginn der 1990er-Jahre eine rücklaufende Tendenz zu erkennen, die jetzt auf einem Niveau stagniert. Ein ganz wichtiges Reformziel des DOSB und BMI (Deutscher Olympischer Sportbund und Bundesministerium des Innern, Anm. d. Red.) ist es, wieder für mehr Medaillengewinne zu sorgen.

Aber lebt Spitzensport denn nur von Medaillen?

Natürlich nicht. Gute Platzierungen oder persönliche Bestleistungen sind auch großartige Ergebnisse. Vor allem auf die persönliche Bestleistung beim sportlichen Großereignis kommt es an, wie ich finde. Wenn erreicht wird, auf den Punkt topfit zu sein, dann weiß man, dass in der Vorbereitung alles gut lief. Allerdings ist das deutschen Sportlern in der Vergangenheit eben nicht immer gelungen, weshalb auch dahingehend die Reform sinnvoll ist, um mitzuhelfen, dass zukünftig mehr Medaillen gewonnen werden können.

Was ist Ihr zweites Pro-Argument für die leistungssportliche Neustrukturierung, das Sie meinten?

Wir haben die Hoffnung, dass damit ein Momentum in Sport-Deutschland entsteht, mit dem der gesellschaftliche Rückhalt für den Spitzensport wiedergewonnen wird. Der hat in den vergangenen Jahren einfach abgenommen.

Woran liegt es?

Das ist eine schwere Frage. Ich ziehe mal einen Teilaspekt heraus. Wenn wir in Deutschland über Sport reden, dann fokussiert sich das auf den Fußball. Der wird immer größer, es fließt immer mehr Geld dort rein. Auf der anderen Seite werden die kleineren, olympischen Sportarten immer mehr an den Rand gedrängt. Die mediale Präsenz spiegelt das so wider – und damit wurde die Bevölkerung hinsichtlich des Interesses für andere Sportarten abgehängt. Aber gerade diese Sportarten – wie Judo, Gewichtheben, Kanu-Rennsport, Moderner Fünfkampf, Ringen, Rudern, Schwimmen, Turnen und so weiter – sind doch sehr spannend. Daher gilt es, den Nicht-Fußballbereich zu stärken.

Zurück zu Potas. Damit sollen die Potenziale der einzelnen Fachverbände verifiziert werden. Anhand der Analyseergebnisse gibt Ihre Kommission dann eine Empfehlung ab, wie viel staatliche Unterstützung ein Fachverband künftig bekommen soll. Die Staffelung erfolgt in drei Kategorien, Cluster genannt: Viel Potenzial bringt hohe Förderung, wenig Potenzial bringt niedrige Förderung oder man fällt in die mittlere Stufe. Warum ist das zielführend?

Die Idee, das so zu machen, ist völlig korrekt. Ich bin der Meinung, dass deutsche Athleten auch mit den vorhandenen Mitteln erfolgreicher sein könnten, wenn wir das Geld besser einsetzen. Und darum geht es jetzt: Es soll gezielt gefördert werden – und zwar dort, wo bestimmte Faktoren am besten erfüllt werden.

Um welche Faktoren handelt es sich?

Bisher wurden in verschiedenen Arbeitsgruppen für die Potas-Kommission 20 Attribute mit 59 Unterattributen vorgeschlagen. Unsere Aufgabe ist es aktuell, diese kritisch zu diskutieren. Die Attribute werden in drei Hauptbereiche aufgeteilt. Erstens: bisherige Erfolge. Zweitens: Perspektive – hier geht es unter anderem um die Nachwuchsförderung. Und drittens: Strukturen – das heißt, wie sind die Verbände aufgestellt, gibt es Rahmentrainingskonzeptionen, wie sieht das Wissenschafts- und Gesundheitsmanagement aus? Diese Kriterien müssen dann in ein Beurteilungsraster gebracht werden. Übrigens verstehen wir uns nicht nur als eine Art Bewerter.

Sondern?

Wir wollen eine Hilfe für die Spitzenverbände sein, ihnen Feedback geben. Durch die Analyse soll ihnen dargelegt werden, wo sie Verbesserungsbedarf haben, damit sie die Bedingungen für ihre Athleten und Trainer optimieren können. Der Leistungssport in Deutschland soll so wieder einen besseren Nährboden zum Entwickeln erhalten. Wir als Potas-Kommission möchten dabei ein enges Miteinander zu den Verbänden pflegen, suchen den Dialog und die transparente Vorgehensweise. Für Hinweise aus den Verbänden sind wir sehr dankbar. Zum Beispiel haben wir zahlreiche Rückmeldungen zu den Attributen bekommen, die wir berücksichtigen werden. Wir möchten auch die Athleten in diesen Prozess miteinbeziehen.

Letzten Endes werden Analyseergebnisse herauskommen, die den deutschen Sport in drei Klassen unterteilen. Nur wer an der Spitze der Pyramide steht, darf sich über bestmögliche Förderung freuen.

Damit sollen Leistungen belohnt werden. Die Verbände, die in der Lage sind, sich gut für die Zukunft aufzustellen, werden entsprechend umfangreich unterstützt. Das ist ein gezieltes Investment in Potenziale, womit die Erfolgswahrscheinlichkeit bei sportlichen Großereignissen erhöht wird. Aber es ist eben nur eine Wahrscheinlichkeitserhöhung und keine Garantie auf Erfolg. Die gibt es nie.

Hinsichtlich der Fördermittelvergabe herrscht auch Kritik. Geld für vier oder acht Jahre anhand von Prognosen auszuschütten, halten einige für unsinnig, weil sie meinen, Erfolge und Entwicklungen lassen sich einfach nicht vorher kalkulieren. Was entgegnen Sie diesen Personen?

Die Vielfalt bei den Attributen ist groß, womit wir ganz viele Bereiche abdecken und so ein starkes Gesamtsystem haben. Und man muss betonen: Das ist ein transparentes System – die Bewertungsgrundlage und Beurteilung sind von außen einsehbar. So etwas haben sich viele Verbände gewünscht, um Entscheidungen nachvollziehen zu können. Aber wie gesagt, ist das nicht nur als Instrument für die Mittelvergabe gedacht, sondern auch als Hilfe, sich zu verbessern.

Nichtsdestotrotz sorgt Potas bei einigen Verbänden für die Angst, durch das Raster zu fallen und nicht mehr genug Geld für die Arbeit zu haben. In der DDR wurde damals die Förderung auch sehr stark an den Erfolgsaussichten festgemacht. Einige Sportarten – wie Moderner Fünfkampf und Wasserball – verschwanden daher komplett von der Bildfläche, weil sie zu wenig Medaillengewinne versprachen. Droht das nun auch?

Dazu darf und wird es nicht kommen. Das Prinzip ist, dass eine gewisse Grundförderung für jede Sportart weiter vorhanden sein soll. Wir investieren in Sportarten mit viel Potenzial, setzen uns aber auch dafür ein, dass die Breite und Vielfalt nicht verloren gehen. Denn gerade das macht die Tradition von Sport-Deutschland aus.

Vor knapp drei Wochen wurde die fünfköpfige Potas-Kommission, der Sie angehören, berufen. Wie läuft die Arbeit?

Seit der Ernennung fand montags ein wöchentliches Treffen der Kommission statt. Es handelt sich bei den Kommissionären um ein sehr gutes und schlagkräftiges Team. Aktuell liegt unser Hauptaugenmerk auf den Attributen, an denen wir intensiv arbeiten, um kein überfrachtetes bürokratisches System zu erschaffen. Dann geht es an das Beurteilungsschema, ehe wir einen Probelauf starten werden.

Es hieß immer, 2018 soll die Reform beginnen zu greifen. Kann Ihre Kommission denn bis dahin die notwendigen Ergebnisse liefern?

Wir wissen, dass wir unter Beobachtung und unter Zeitdruck stehen. Natürlich sind wir bemüht, schnellstmöglich voranzuschreiten, aber über allem steht, dass wir eine hochwertige Qualität erreichen.

ZUR PERSON
Urs Granacher, 44 Jahre alt und gebürtiger Badener, studierte an der Universität Freiburg Sportwissenschaft, Germanistik und Anglistik auf Lehramt. Nach diversen Tätigkeiten an Schulen und Hochschulen kam er im April 2012 an die Universität Potsdam, wo er die Professur für Trainings- und Bewegungswissenschaften übernahm. Der einst aktive Judoka wurde vor Kurzem als stellvertretender Geschäftsführer in die fünfköpfige Potas- Kommission berufen. Potas ist die Abkürzung für Potenzialanalysesystem. Dies ist ein wichtiges Element der geplanten Spitzensportreform in Deutschland.

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