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Brandenburg läuft: Doku über Potsdamerin: Waschgang für die Seele

Je länger sie läuft, desto klarer werden ihre Gedanken, desto befreiter die Seele. In der Dokumentation „Ultra“ erzählt die Potsdamerin Annett Blohm, warum sie Hunderte Meilen läuft.

Als vor 2500 Jahren während des Perserkrieges der Bote Pheidippides von Athen nach Sparta lief, hatte das einen Grund. Er sollte für die bevorstehende Schlacht bei Marathon die Spartaner um Hilfe bitten. Er soll am frühen Morgen losgelaufen und am Abend des nächsten Tages ankommen sein. Nach 246 Kilometern. Zweieinhalb Jahrtausende später laufen Menschen – seit 1983 jeden letzten Freitag im September – wieder von der Akropolis bis zur Statue von König Leonidas in Sparta. Aber warum?

Vom Laufband zum Ultra-Rennen

Die Frage hat auch den ungarischen Filmemacher Balasz Simonyi beschäftigt. Warum laufen Menschen ultralange Distanzen durch Wüsten, über Bergpässe, auf vereisten Seen in Sibirien? Oder 246 Kilometer durch Griechenland, den Spartathlon, der als härtestes Ultrarennen der Welt gilt? Den heißen griechischen Asphalt, den brüchigen Beton und die unbequemen Bergpfade, die Sonne über der Akropolis und die Dämmerung über Korinth wählte der Regisseur als Requisiten für seinen Film „Ultra“. In der Dokumentation lässt er fünf Protagonisten erzählen, was sie zu Extremleistungen antreibt. Eine der fünf Helden ist die Potsdamerin Annette Blohm. Sie hatte Simonyi nach dessen Bewerbungsaufruf geschrieben – und gleich am nächsten Tag die Zusage für die „Rolle“ erhalten.

In der drei Jahre später fertig gestellten Kino-Dokumentation spult Annett Blohm ein Stück weit ihr Leben zurück. Sie ist gerade 20 Jahre jung, als ihre 51-jährige Mutter an Darmkrebs stirbt. „Wir sollen auf unsere Gesundheit achten“, zitiert Annett Blohm die Bitte ihrer Mutter an sie und ihre zwei Geschwister. Keine vier Wochen später löste sie einen Gutschein für ein Probetraining im Fitnessstudio ein. Doch es dauerte, bis die Dosis Sport zu wirken begann, „denn es ging mir alles andere als gut“, erzählt Annett Blohm. Ihr Bewegungsradius blieb überschaubar. „Ich bin zwar aufs Laufband gegangen, aber es hat ewig gedauert, bis ich mich motivieren konnte, tatsächlich zu rennen.“ Laufen taugte noch nicht als Bewältigungsstrategie. Erst als sie das Laufband im Studio gegen Laufwege in der Natur tauschte, änderte sich das. Sie steigerte das Pensum, lief zehn Kilometer, Halbmarathon, schaffte im Wechsel zwischen Wandern und Laufen die anspruchsvollen 31 Kilometer beim bekannten Hermannslauf von Detmold nach Bielefeld. 2002 lief sie in Berlin ihren ersten Marathon. Und als ihr Bruder in Läufer-Foren entdeckt hatte, „dass es da noch andere Sachen gibt“, meinte sie: „Dann lass uns das mal machen.“ Die „anderen Sachen“ trugen das Attribut „Ultra“: 50 Kilometer lange Rennen, Sechs-Stunden-Läufe, 73 Kilometer über den Rennsteig, fünf Tage nonstop an der Isar entlang.

2012 startete sie das erste Mal beim Spartathlon. Der Jahrgang hat in der Ultralaufszene einen besonders hohen Stellenwert. Temperaturen von 40 Grad machten das Rennen extremer als es ohnehin ist. 2012 gilt als bislang heißestes Rennen in der Spartathlon-Geschichte. Viele stiegen aus dem Rennen aus. Annette Blohm wurde Dritte.

„Je länger ich laufe, desto klarer werden die Gedanken“

Potsdam - Währenddessen begann zu Hause ein ganz anderer Kampf. Ihr Sohn Kevin – 23 Jahre jung, sportlich, lebensfroh – klagte über Schmerzen in der Brust. Die Ärzte vermuteten eine Lungenentzündung, tatsächlich war es ein Tumor. Ende Oktober die endgültige Diagnose: Leukämie, eine akute Form. Es fand sich ein Stammzellenspender und mit ihm Hoffnung. Und das Laufen gab ihr Halt bei der Balance zwischen Hoffen und Bangen. Mit dem Spartathlon war sie eigentlich durch, „ich war glücklich und fertig damit“, sagt Annette Blohm. Aber ihr Lebensgefährte hatte mit der griechischen Herausforderung noch eine Rechnung offen, nachdem er es nicht ins Ziel geschafft hatte. Also meldeten sie sich im Januar 2013 wieder an, fünf Monate später mussten sie sich endgültig für einen Start entscheiden. „Das war im Mai. Meinem Sohn ging es gut, er durfte für drei Wochen aus der Klinik nach Hause“, erzählt Annett Blohm.

Es sollten noch einmal drei glückliche Wochen werden: ein nahezu normales Leben, Fahrrad fahren, essen, lachen. Im Juni zog Kevin in die Charité ein. Um für eine Stammzelltransplantation vorbereitet zu sein, wird das das Immunsystem des Empfängers durch Medikamente unterdrückt und bis auf Null gefahren, um die natürlichen Abstoßungsreaktionen auf transplantiertes Gewebe oder Zellen zu vermeiden. Drei Monate dauerte diese Ultra-Kur für Kevin. Kein Fenster durfte geöffnet werden, die Luft musste steril gehalten werden, es gab keine Gerüche oder Geräusche. „Zu seinem Geburtstag habe ich eine Orchidee reingeschmuggelt“, erzählt Annett Blohm. Den Erfolg der Behandlung kalkulierten die Ärzte mit 25 Prozent. „Wir hielten daran fest. Alles andere zählt nicht. Du glaubst nicht, dass es schiefgehen kann. Bis zum Schluss nicht.“

Die Hoffnung war Begleiter beim Laufen. Training war Verarbeitung, Bewältigung, Aushalten und Abschalten – vom Leiden, von der eigenen Arbeit, von der Auflösung der Wohnung ihres Sohnes. „Laufen reinigt“ sagt Annett Blohm. Nicht wie Regen, der Schmutz abwäscht. Es reinigt von innen, putzt die Seele. Es geht, natürlich, auch ums Ankommen, manchmal sogar uns Gewinnen, wie nach 160 Kilometern beim Berliner Mauerweglauf im August 2013, als Annett Blohm Erste wurde. Aber viel mehr zählt das Unterwegssein, um sich zu ordnen und zu finden. „Je länger ich laufe, desto klarer werden die Gedanken“, sagt sie.

Schicksschlag nicht als Ende - sondern als Antrieb

Als sie Ende September 2013 in Athen an der Startlinie des Spartathlons stand, „war es, als hätte mir jemand den Stecker gezogen“, erinnert sich Annett Blohm. Die Umwege, die das Leben in den Wochen und Monaten zuvor forderten, hatten Kraft gekostet. Sie wollte nicht laufen. Es reichte für die Hälfte des 264 Kilometer langen Weges. „Mein Kopf sagte mir, dass es mir nicht gut tut, wenn ich weiterlaufe.“ Zurück zu Hause erklärte ihr Kevin, dass der Krebs zurück sei. Kurz danach verlor er den Kampf.

Bevor er ging, sagte er ihr: „Du hast auch noch ein Leben.“ Auch wenn es das Schlimmste ist, das eigene Kind zu verlieren, „ist es ein Teil meines Lebens“, sagt Annett Blohm. Sie kann ihre Geschichte erzählen. Es kann eine Kamera für ein Kino-Publikum sie dabei filmen, wie sie auf der Potsdamer Freundschaftsinsel zu Kevins 26. Geburtstag 26 Luftballons fliegen lässt. „Weil ich damit umgehen kann“, sagt sie. Ihr Leben und das Ultralaufen stehen in Wechselbeziehung, schicksalhaft und zugleich ermutigend: Ohne Probleme und Krisen durchzulaufen, ist praktisch unmöglich. Es gibt Passagen und Prüfungen, die einen an die Grenze bringen. „Aber man läuft weiter, weil es irgendwann besser wird. Das weiß ich“, sagt Annett Blohm.

„Ab 170 Kilometern hat es nur noch geschüttet“

Als die Kameras sie beim Spartathlon zwei Jahre nach Kevins Tod begleitet haben, hat sie es nicht ins Ziel geschafft. Als sie in Athen losliefen, schien die Sonne. Dann begann es zu regnen, erst leicht, dann immer heftiger. „Ab 170 Kilometern hat es nur noch geschüttet“, erzählt Annett Blohm. Das Wasser steht in ihren Schuhen, irgendwann hat sie keine trockenen Sachen mehr. Ihr ist kalt. Nach 215 Kilometern hört sie auf, zieht die Schuhe aus und schaut auf ihre Füße: aufgequollen, doppelt so dick wie normal, schmerzhaft. Sie habe sich niemandem verpflichtet gefühlt zu laufen. Nicht den Kameras, nicht ihrer Filmrolle. 30 Kilometer vor dem Ziel war Schluss. „Das war schön“, sagt sie. Denn angekommen war sie schon längst.

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Die Dokumentation „Ultra“ hatte vor wenigen Tagen in Berlin ihre Deutschlandpremiere. Die Potsdamer Protagonistin des Films, Annett Blohm, zeigt den Streifen auch in Potsdam: Am Samstag, dem 4. November, im Laufatelier von gotorun in der Lindenstraße 6. Beginn ist um 17 Uhr. Der Eintritt ist eine freiwillige Spende zugunsten der DKMS – der Deutschen Knochenmarkspenderdatei. 

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