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Erinnerung, sprich. Der 81-jährige Michael Maor sprach in Babelsberg über seine Erfahrungen während des Holocaust und wie er half, dass der NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann gefasst und verurteilt werden konnte.

© SV Babelsberg 03

Zeitzeugengespräch: Waisenkind und Mossad-Agent

Der Holocaust-Zeitzeuge Michael Maor sprach beim Sportverein Babelsberg 03 über seine Kindheit und darüber, wie er nach dem Krieg dabei half, den Kriegsverbrecher Adolf Eichmann vor Gericht zu bringen

Es ist ein Abend im Jahr 1960. Ein junger Mann sitzt im Zug von Köln nach Frankfurt am Main. Er trägt einen Anzug, hat eine Aktentasche bei sich und fährt Erste Klasse. Am Bahnhof nimmt er sich ein Taxi. Doch die letzten 100 Meter geht er zu Fuß. Sein Ziel: die Staatsanwaltschaft. Selbstbewusst geht er ins Gebäude, grüßt den Pförtner. Inzwischen ist es dunkel, die Flure sind leer und still. In seiner Tasche hat er einen Schlüssel für das Büro von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Der Raum ist von Zigarrenrauch erfüllt, auf dem großen Eichentisch liegt ein Stapel Akten. Der junge Mann holt eine Reprokamera aus seiner Tasche und beginnt, die Papiere zu fotografieren. Den Auftrag dazu hatte er wenige Tage zuvor bekommen.

Elf Tage später wird der Kriegsverbrecher Adolf Eichmann, der während des Zweiten Weltkriegs die Judentransporte in die Vernichtungslager organisiert hatte, von Agenten des Mossad in Argentinien entführt und nach Israel gebracht. Hier wird ihm der Prozess gemacht. Im Mai 1962 wird Eichmann hingerichtet.

„Es war ein merkwürdiges Gefühl, diese Akten, die die Nazis persönlich unterschrieben haben, in den Händen zu halten“, sagt Michael Maor. Erst als er die Papiere zu lesen begann, sei ihm klar geworden, dass er die Ermittlungsakten von Adolf Eichmann fotografierte. Seine nächtliche Aktion in der Frankfurter Staatsanwaltschaft trug wesentlich zur Verurteilung Eichmanns bei. Heute ist Maor 81 Jahre alt und lebt in Israel. Am Dienstagabend erzählt er vor etwa 50 Zuhörern im Presseraum des Karl-Liebknecht-Stadions seine beeindruckende Lebensgeschichte. Der Sportverein Babelsberg 03 hat ihn dazu eingeladen. „Wir sind zwar ein Fußballverein, aber wir verbinden mit dem Fußball auch eine gesellschaftliche Verpflichtung“, sagt der stellvertretende Vorsitzende Götz Schulze. Der Verein stehe gegen Antisemitismus und Rassismus und wolle sich mit Aufklärung für diese Überzeugung einsetzen. Auf Initiative des Vereins Institut Neue Impulse habe man Michael Maor daher als Zeitzeugen des Holocaust gerne eingeladen.

1933 wurde Michael Maor, der damals noch Sternschein hieß, in Halberstadt geboren. 1939 flüchtete die jüdische Familie nach Jugoslawien, schlug sich durch, wechselte mehrfach den Aufenthaltsort, wurde im italienisch geführten Konzentrationslager auf der Insel Raab interniert. Von dort aus gelang nach der Kapitulation der Italiener die Flucht. 1944 wurden beide Eltern, die als Partisanen in Kroatien kämpften, bei einem Angriff erschossen. Mit elf Jahren war Michael Maor plötzlich auf sich allein gestellt – ohne Eltern, Geschwister oder andere Angehörige. Damals sei er „wie ein Paket“ hin- und hergeschickt worden. Nach dem Krieg kam er in die britische Kolonie Palästina und wuchs in einem Kibbuz mit einer Adoptivmutter auf. Doch das Gefühl, allein zu sein, verließ ihn auch dort nicht ganz: „Du bist niemals wirklich ein Teil der Familie, die dich aufnimmt, und mit diesem Gefühl musst du lernen zu leben.“

Nach seinem Militärdienst in Israel und mehreren Jahren als Fallschirmspringer und Konstrukteur in der israelischen Armee entschloss sich Michael Maor, nach Deutschland zurückzukehren, um in Köln Fotografie zu studieren. „Ich habe beschlossen, dass ich noch etwas anderes lernen muss als Schießerei“, so Maor. Hier begann auch seine Zeit als Mossad-Geheimagent.

Michael Maor kann über seine Erlebnisse erst seit einigen Jahren sprechen. „Leute, die den Holocaust überlebt haben, haben nie über ihre Erlebnisse gesprochen, auch nicht mit ihren Familien“, sagt er. Einmal habe ihn seine Kibbuz-Mutter gefragt: „Warum versteckst du Brot unter deiner Matratze?“ Der Junge wusste keine Antwort. „Was sollte ich sagen? Was ich gegessen habe, kann mir niemand mehr wegnehmen. Jemand, der das alles nicht erlebt hat, kann das nicht verstehen.“ Während des Eichmann-Prozesses in Israel war Maor in Deutschland. „Ich wollte das nicht sehen.“

1966 kehrte Michael Maor nach Israel zurück. Heute redet er als Zeitzeuge vor allem in deutschen Schulen und leistet Aufklärungsarbeit. Auch zu aktuellen politischen Themen bezieht er Stellung, mit durchaus streitbaren Thesen. Auf die Beziehungen zwischen Gaza und Israel angesprochen, fällt seine Bilanz ernüchternd aus: „Es gibt momentan keine Lösung.“

Die Akten, die Michael Maor damals fotografierte, liegen heute im israelischen Staatsarchiv. Lange nach den Ereignissen in Deutschland nahm er Kontakt zum Staatsarchiv auf, um noch einmal einen Blick hineinwerfen zu können. „Die Dame dort erklärte mir, dass das streng geheim sei und es nicht erlaubt sei, Einsicht zu nehmen.“ Doch nachdem er ihr klargemacht habe, dass ohne ihn die Akten nicht in Israel seien, habe er sie überzeugen können, sagt Maor und lacht.

Heike Kampe

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