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Landeshauptstadt: Wo einst die Brigaden feierten und sich der Gutsherrenspross trauen ließ

In Satzkorn wohnen heute mehr Menschen als 1989. Trotzdem hat so manche Einrichtung im Ort ihre Pforten für immer geschlossen. Es ist ruhig geworden im Dorf

Diese Straße würde einer Panzerstrecke zur Ehre gereichen: Der Beton ist zerklüftet, zernagt vom Zahn der Zeit. Ein kleines Straßengebirge könnte man das nennen, was hier über Jahrzehnte entstanden ist. Auf der Dorfstraße von Satzkorn, in Höhe des einstigen Gutsgeländes, sind die Segnungen der Neuzeit nicht zu spüren. Hier, wo das Dorf fast zu Ende ist, sieht es auch links und rechts jenes Fahrbahngebirges nicht nach Konjunkturpaket aus. Nicht einmal ein Konjunkturpäckchen scheint angekommen zu sein.

Weiter vorne auf der Straße in Richtung Ortskern – hier ist die Fahrbahn intakt – kehrt ein Mann gerade das Herbstlaub zusammen. „Hier ist tot“, sagt er, während Trixi, sein schätzungsweise gut 20 Zentimeter hoher vierbeiniger Begleiter, in Sopranlage bellt. Nein, mit seiner klaren Ansage vom Tod meint der Satzkorner nicht den nahen Friedhof. Die Ruhestätte, in deren Mitte eine kleine märkische Dorfkirche steht, hat vielmehr sogar etwas Lebendiges: Gepflegte Grabstätten mit frischen Blumen zeigen, dass sich hier Menschen um die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen kümmern.

Der laubkehrende Mann denkt hingegen wohl eher an die allgemeine Situation im Dorf: Es ist nicht mehr so viel los wie früher, als es in Satzkorn sogar noch eine Post gab. Als die Verwaltung eines Volkseigenen Gutes im ehemaligen Herrenhaus ihren Sitz hatte. Und der Bahnhof die Satzkorner mit der Außenwelt verband. All dies ist seit über 20 Jahren Geschichte. Der politische Umbruch von 1989 brachte Anfang der Neunziger-Jahre das Aus für diese Einrichtungen. Und doch: Heute leben in Satzkorn mehr Menschen als 1989. Gab es damals knapp 300 Einwohner, so waren es Ende vergangenen Jahres etwa 450. Hauptgrund für diesen Bevölkerungszuwachs ist das Wohngebiet mit Einfamilienhäusern, das Mitte der 1990er-Jahre nördlich der Bergstraße entstand.

Erntefest, Frauentags- und Brigadefeier – eine Frau, die gerade mit ihrem Fahrrad die Dorfstraße entlangkommt, erinnert sich an die alten Zeiten, in denen die Dorfbewohner nicht erst weit fahren mussten, um ein paar feuchtfröhliche Stunden in größerer Gesellschaft zu genießen. In der Dorfgaststätte habe man damals so manche vergnügliche Fete abgezogen. Doch nicht nur die feiernden Brigaden sind längst Geschichte, auch die Gaststätte gibt es nicht mehr. Und noch etwas merkt die ältere Dame an: Früher habe jeder vor seinem Haus gekehrt. Die meisten jungen Menschen von heute würden das einfach nicht mehr machen. Die Alten wiederum seien weggestorben. „Sie können ja mal das Dorf langgehen, dann sehen Sie ja, wo was gemacht ist und wo nicht“, sagt die Frau.

Mit dieser melancholischen Ouvertüre im Ohr die wenigen Dorfstraßen Satzkorns durchstreifend, bietet jener Herbsttag des Jahres 2013 noch Unverhofftes: „Getränkeladen Satzkorn“ heißt es da in blauen Lettern auf einem Schild am Straßenrand. Klar, der Schriftzug hat einfach nur die Zeiten überdauert. Der Laden ist längst dicht. Anders kann es doch gar nicht sein – so denkt man jetzt. Doch nein: Das große Tor einer alten Fachwerkscheune im Hof eines ehemaligen Bauerngehöfts ist weit geöffnet und gibt den Blick frei auf reihenweise Getränkekästen. Bier, Wasser, Saft – obendrüber die Preisschilder. Alles ist echt. Kein Scherz. Und auch kein Landmuseum. Es ist der ganz reale Getränkeladen von Rita Kobs.

„Sei gegrüßt!“, sagt ein Kunde und tritt in die Scheune ein: „Da sind wir wieder.“ Kobs’ Ehemann Gerald erwidert den Gruß mit einem freundlichen Hallo. Dann bringt der Kunde fünf Kästen mit leeren Pfandflaschen herein und stellt sie vor der Kasse ab. Wenig später kommt ein anderer Mann. „Hallo, na, ausgeschlafen?“, fragt ihn Kobs. Es ist schon nach 16 Uhr. Natürlich kennt Kobs auch diesen Kunden persönlich. Hier kennt wohl jeder jeden. Den Laden betreibt Rita Kobs nur im Nebengewerbe, hauptberuflich arbeitet sie bei einer Firma im Büro. Darum auch die ungewöhnlichen Geschäftszeiten: Wochentags öffnet der Getränkemarkt 16 Uhr, samstags bereits um zehn.

Und er ist auch ein bisschen Museum: In der alten Scheune sind neben den Getränkekästen auch ein paar Gerätschaften ausgestellt, die an das einstige Landleben erinnern. Gerald Kobs zeigt auf eine alte Waage. „Da haben wir zum Beispiel immer Schweine drauf gewogen – oder Rhabarber.“ Auf 900 Quadratmetern hatten sie damals hinten im Garten die schmackhaften Pflanzen angebaut, erzählt der Mann mit dem grauen Oberlippenbart. „Und in Marquardt hatten wir auch 1000 Quadratmeter Rhabarber“, fügt der 59-Jährige hinzu. „Damals hat man eben ein bisschen Geld gemacht.“ Im Nebenerwerb. Ja, zu DDR-Zeiten war das. Da konnte man Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten beim Aufkauf abgeben.

In den Zeiten vor der DDR, da prägte die Gutsbesitzerfamilie Brandhorst das Leben in Satzkorn. Und das über 200 Jahre lang. Satzkorn und Brandhorst – es muss eine enge Bindung zwischen Dorf und Familie gegeben haben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts veränderte die Familie sogar ihren Namen und nannte sich fortan Brandhorst-Satzkorn. Doch mit Brandhorsts nahm es ein jähes Ende: Der letzte Gutsbesitzer wurde von den 1945 einmarschierenden Sowjets erschossen.

Aber Rita und Gerald Kobs halten noch heute Kontakt zu den Nachfahren, die jetzt in Schweden wohnen. Bald nach dem politischen Umbruch 1989 hieß es, Fredrik Brandhorst-Satzkorn wolle sich hier im Dorf kirchlich trauen lassen. „Wenn du hier heiratest, dann machen wir es richtig“, habe er damals zu Fredrik gesagt, erinnert sich Gerald Kobs. Und es kam tatsächlich so: Fredrik reiste mit Familie aus Schweden an und ließ sich in der Satzkorner Kirche trauen. Den Polterabend veranstalteten sie im Hof der Familie Kobs – direkt vor dem heutigen Getränkeladen, den es damals noch nicht gab.

Der alte Brandhorstsche Familiensitz, einen Steinwurf entfernt vom Gehöft der Kobs’, rottet hingegen immer weiter vor sich hin. Es ist ein Bild des Jammers. „Ein Trauerspiel ohne Ende“ nennt es Satzkorns Ortsvorsteher Dietmar Bendyk. Er nimmt die Sache inzwischen mit Galgenhumor: Das Gutshaus „kann nicht einmal abbrennen, das ist so nass, das brennt gar nicht“, sagt er resigniert. Nur ein paar Meter entfernt von der Ruine des Herrenhauses, gleich neben dem Fahrbahngebirge der Dorfstraße, hängt an der Wand eine Uhr. Sie ist stehen geblieben. Tagein, tagaus zeigt sie halb zehn. Hier geht nichts mehr. Aber um die Ecke herum, direkt an der Hauswand, stehen ein paar Rosen. An diesem Herbsttag zeigen sie ihre bunten Blüten. Auch Knospen sind zu sehen.

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