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„Ich habe meine Freunde an diesem Tag zum letzten Mal gesehen.“ Hermann Schlüter im Gespräch mit der Gedenkstättenleiterin Ines Reich. Im Hintergrund das digitale Haftbuch mit dem Eintrag für den Potsdamer Zeitzeugen Peter Seele.

© Andreas Klaer

Landeshauptstadt: Wissen, wie die Opfer hießen

Die Gedenkstätte Leistikowstraße legt ein digitales Haftbuch vor: 422 Häftlingsnamen sind darin zu finden – bisher

Nauener Vorstadt - Keiner soll vergessen sein: Die Gedenkstätte Leistikowstraße hat am Dienstag ein digitales Haftbuch präsentiert, das die Namen von 422 ehemaligen Häftlingen aufführt, die in dem ehemaligen sowjetischen Untersuchungsgefängnis in Potsdam einsaßen. In einem neu eingerichteten „Raum der Stille“ können Betroffene, deren Verwandte und Interessierte an einem Monitor recherchieren, was die Gedenkstätte bisher über die identifizierten Häftlinge erforschen konnte.

Die Namen sind alphabetisch geordnet und mittels einer Suchfunktion fand auch Hermann Schlüter seinen Namen schnell. Für ihn ist der 18. Dezember ein besonderer Tag, wie der Zeitzeuge bei der Präsentation des Haftbuches in bewegender Weise erklärte: Als 15-Jähriger waren er und seine drei Potsdamer Mitschüler Joachim Douglas, Klaus Eylert und Klaus Tauer am 18. Dezember 1945 wegen des Verdachts, Mitglieder der NS-Werwolf-Organisation zu sein, vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet worden. Alle vier wurden zum Tode verurteilt, Schlüter jedoch am 18. April zu 20 Jahren Lagerhaft begnadigt. „Ich habe meine Freunde an diesem Tag zum letzten Mal gesehen“, sagte Schlüter. Die drei Schüler sind noch an diesem Tag in Potsdam erschossen worden.

Der Vorsitzende des Gedenkstätten-Vereins Leistikowstraße, Richard Buchner, erklärte, dem digitalen Haftbuch mit 422 Häftlingsnamen sei „eine enorme Arbeit“ vorausgegangen. Das Haftbuch stelle „einen großen Fortschritt im Gedenken an die Überlebenen und die Toten dar“. Nach Angaben der Gedenkstättenleiterin Ines Reich lagen zum Zeitpunkt der Gründung der Gedenkstätte im Dezember 2008 zunächst die Namen von 60 deutschen und zehn sowjetischen Bürgern vor, die Häftlinge in der Leistikowstraße waren. Anhand der Ausweitung von Suchlisten des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), von Überstellungslisten der sowjetischen Geheimdienste, von Rehabilitationsakten und weiteren Quellen konnten zahlreiche weitere Personen als ehemalige Insassen der Leistikowstraße identifiziert werden. Nicht zuletzt hätten auch Nachfragen von Hinterbliebenen in der Gedenkstätte für weitere Aufklärung gesorgt. „Die Opfer bekommen Namen und Gesichter“, so die Historikerin. 164 der 422 namentlich bekannten Insassen konnte ein Foto zugeordnet werden. Ines Reich zufolge ist es „eine permanente Aufgabe“, das Haftbuch zu vervollständigen. Um auch nur zu schätzen, wie viele Häftlinge in der Leistikowstraße in 50 Jahren Gefängnisnutzung einsaßen, fehle eine solide Basis.

Die Villa in der ehemaligen Mirbachstraße 1, vorher Sitz der Evangelischen Frauenhilfe, war 1945 vom sowjetischen Geheimdienst beschlagnahmt worden und erst nach dem Truppenabzug 1994, wie Hermann Schlüter es ausdrückte, „für freie Deutsche wieder zugänglich“.

Brandenburgs Kulturstaatssekretär Martin Gorholt (SPD) schlug in seiner Rede einen Bogen zu der im April 2012 eröffneten Dauerausstellung der Gedenkstätte. Diese war heftig umstritten (PNN berichteten); Gorholt sagte, ihm sei damals schon bewusst gewesen, dass „das nicht das Ende dessen ist, was wir zeigen wollen“. Das digitale Haftbuch und der „Raum der Stille“ seien weitere wichtige Bausteine der Ausstellung. Ein wichtiger Aspekt des Haftbuches bestehe in der Geschichtsvermittlung an Schüler: „Es ist immer gut, wenn man von konkreten Personen reden kann.“ Der Staatssekretär: „Auch wenn wir das Überwältigungsverbot alle kennen, soll die Gedenkstätte auch berühren.“ In der Bewertung der Geschichte sei es schwierig, auf einen Nenner zu kommen. Die Rote Armee habe Auschwitz und Teile Deutschlands vom Nationalsozialismus befreit, aber auch den Stalinismus nach Deutschland gebracht und mit der DDR „eine Diktatur sowjetischer Prägung“ begründet. Gorholt: „Die Differenziertheit der Geschichte ist an diesem Ort immer zu berücksichtigen.“ Und: „Die Gefühle an diesem Ort dürfen unterschiedlich sein.“

Hermann Schlüter sah nach 86 Tagen Kellerhaft die Sonne wieder, die ihn blendete: „Die Haut war schneeweiß, man sah die Adern, die Läuse, die Krätze. Man war ein heruntergekommener Mensch – und hatte doch Mut.“ Guido Berg

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