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Selfie-Queen. Ruba ist die "Medienexpertin“ unter den „Willis“, wie Lehrerin Richter sie nennt – und natürlich versäumte sie es nicht, gleich ein Bild von der Zeugnisübergabe zu machen. Die 17-Jährige ist ohne ihre Eltern aus Syrien nach Deutschland geflohen.

© Andreas Klaer

Willkommensklassen für Flüchtlinge in Potsdam: Abschied von den „Willis“

Die ersten Flüchtlingskinder wechseln jetzt in Regelklassen. In der Willkommensklasse der Potsdamer Da-Vinci-Gesamtschule wurden Zeugnisse verteilt - und ein paar Tränen verdrückt

Von Katharina Wiechers

Potsdam - Für jeden ihrer Schüler hat sich Klassenlehrerin Kerstin Richter ein, zwei persönliche Sätze zurechtgelegt. „Du hast anfangs kaum gesprochen, aber jetzt traust du dich schon viel mehr“, sagt sie zum Beispiel zu Alaa, einem etwas schüchternen Mädchen mit rosa Kopftuch. „Und du bist schuld daran, dass ich in diesem Jahr acht Kilo zugenommen habe!“, richtet sie mit einem Augenzwinkern an Aziza mit ihrem langen braunen Kleid. „Aber bitte nicht nur kochen und backen, sondern auch lernen!“ Dann bekommen die Mädchen eine Mappe in die Hand gedrückt. Darin: ihr erstes deutsches Zeugnis.

Zwölf Jugendliche haben nun ein Jahr lang die Willkommensklasse in der Leonardo-Da-Vinci-Gesamtschule in Potsdam-West besucht, am gestrigen Dienstag haben Alaa, Aziza und die anderen dafür ein Zeugnis bekommen. Bewertet werden darin Dinge wie „Bereitschaft zur Teamarbeit“ oder „Selbstständiges Arbeiten“, vor allem aber die Sprachkenntnisse. Die meisten haben das Niveau A1 oder A2 erreicht, wenige auch B1. „B1 ist eigentlich in einem Jahr nicht zu schaffen“, sagt Richter. „Das geht nur, wenn man nebenher noch was macht.“

Zeinab ist ihrem Ziel einen Schritt näher gekommen: Sie will Neurologin werden

Einer von den besonders motivierten „Willis“, wie Richter ihre Willkommensschüler nennt, ist Loai. „Ich bin mir sicher, dass du einmal Deutschlehrer oder sogar Professor wirst“, gibt Richter dem 15-jährigen Syrer mit auf den Weg. Loai lächelt, es ist ihm ein bisschen unangenehm. Aber stolz ist er auch. Er kann jetzt in eine Regelklasse wechseln, mit deutschen Schülern lernen. An welcher Schule, weiß Loai allerdings noch nicht – obwohl das Schuljahr vorbei ist, wissen die Kinder noch nicht, wo es ab Herbst weitergeht.

Auch Zeinab, syrische Kurdin und ebenfalls Überfliegerin wie Loai, ist noch im Ungewissen. Aber wahrscheinlich wird sie das Helmholtz-Gymnasium besuchen, sagt die 16-Jährige. Dort besucht sie schon jetzt einmal die Woche den Mathe-Club, einige Mitschüler kennt sie also schon. „Natürlich bin ich auch traurig, hier wegzugehen, ich habe hier viele Freude. Aber das bringt mich meinem Ziel ein Stück näher.“ Und was ist das Ziel? „Ich möchte Neurologin werden“, sagt Zeinab – in lupenreinem Deutsch.

Nicht alle blicken so optimistisch in die Zukunft, manche sind traurig, dass sie den geschützten Raum der Vorbereitungsklasse und Kerstin Richter mit ihrer liebevollen Art verlassen müssen. Sie ist ihre Klassen- und Deutschlehrerin – Mathe oder Kunst unterrichten andere Kollegen. Eigentlich ist Richter Englisch-Lehrerin, doch nebenbei hat sie nun eine Zusatzqualifizierung zur „Begleitung und Förderung des Zweitsprachenerwerbs von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund“, wie es im Amtsdeutsch heißt, erworben. Auch in Zukunft wird sie Flüchtlingskinder am Da-Vinci unterrichten, jeweils ein Jahr lang. Dann müssen sie in eine Regelklasse. Egal, wie gut sie die Sprache gelernt haben.

Ruba darf noch in der Willkommensklasse bleiben. Sie hatte einen holprigen Start in Deutschland

Die einzige Ausnahme wird in dieser Klasse für Ruba gemacht. Die 17-Jährige ist selbstbewusst und präsent, ist die erste, die nach der Zeugnisvergabe aufspringt und ein Selfie mit der Klasse macht. Sie legt Musik auf, macht Videos. Doch mit dem Deutschen tut sie sich noch schwer, sie hatte einen besonders holprigen Start in der Fremde. Denn Ruba ist ohne Eltern aus Syrien geflohen, nur begleitet von ihren beiden jetzt 19 und 23 Jahre alten Brüdern. „Meine Eltern sind zu alt“, erklärt sie mit Übersetzungshilfe einer Klassenkameradin. Deshalb seien sie in Idlib geblieben. Anfangs haben die Geschwister im Staudenhof gewohnt, jetzt in einer Wohnung am Schlaatz.

Ruba wird also noch etwas länger „Willi“ bleiben, zusammen mit den sieben, die während des Schuljahres gekommen sind – und einer noch ungewissen Zahl neuer Flüchtlingskinder. Auch für die sieben, die das Jahr noch nicht voll haben und nach den Sommerferien wie Ruba weiter in die Willkommensklasse gehen, hat Richter ein Zeugnis vorbereitet. Sie sollen bei der feierlichen Übergabe am Dienstag nicht fehlen und bekommen eine Art Teilnahmebestätigung.

Als Ort für die Übergabe hat Richter das Kongresshotel am Luftschiffhafen gewählt, dort stellte man kostenfrei einen Raum und Getränke zur Verfügung. „Wir hätten das natürlich auch in der Schule machen können. Aber so etwas hat einen würdigen Rahmen verdient“, findet Richter. „Und es passt zu unserem Konzept vom Lernen am anderen Ort.“

Die "Willis" haben viel gerlernt dieses Schuljahr - auch außerhalb des Klassenzimmers

Was dieses Konzept bedeutet, ist während der Feier zur Zeugnisvergabe deutlich zu sehen: Richter hat Bilder von Ausflügen und Workshops in einer Foto-Show zusammengeschnitten, und da ist in einem Schuljahr einiges Zusammengekommen: vom Besuch im Botanischen Garten über eine Führung durch den Brandenburger Landtag bis zum Paddeln auf dem See oder dem Medienworkshop. Auch den Marmorsaal im Neuen Palais, das Chinesische Haus im Park Sanssouci und das historische Dampfmaschinenhaus in der Breiten Straße haben die Jugendlichen besichtigt – dank Silke Hollender. Die Mitarbeiterin der Schlösserstiftung, die im Bereich Kulturelle Bildung tätig ist, war von selbst auf die „Willis“ zugekommen und hat für sie spezielle Führungen organisiert.

Bei der Zeugnisvergabe ist auch sie dabei. „Bevor es losging, war ich ziemlich aufgeregt“, erinnert sie sich an den ersten Ausflug. Schließlich wusste sie nicht, wie es mit der Sprache klappen würde. Doch als die „Willis“ kamen, erkundeten sie neugierig das Schloss – und alle Zweifel waren verflogen. Jetzt will sie die Führungen auch für andere Willkommensklassen in Potsdam anbieten.

Die „Willis“ zu verabschieden, fällt Kerstin Richter nicht ganz leicht, das ist ihr anzumerken. Als die Schüler dann auch noch eine Torte hervorzaubern, auf der ein Foto der Lehrerin und der Schriftzug „Wir lieben dich“ zu sehen ist, kämpft sie mit den Tränen. Als die Veranstaltung sich dem Ende neigt, sagt sie: „Ich hoffe, dass die ,Willis’ in den Regelklassen genauso willkommen sind wie bei uns.“

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