zum Hauptinhalt

Werkstatt: Die Macht der Merkelbürste

Bei ihrem Besuch im Oberlinhaus in Potsdam bekam Bundeskanzlerin Merkel einen langstieligen Handfeger geschenkt. Plötzlich ist das Produkt aus den Behinderten-Werkstätten ein Verkaufsschlager.

Potsdam - Als die Kanzlerin vor zwei Wochen das Oberlinhaus besuchte, bekam sie ein Geschenk. Matthias Fichtmüller, theologischer Vorstand, überreichte Angela Merkel einen langstieligen Handfeger, gefertigt in den Oberlinwerkstätten. Mit diesem könne sie je nach Bedarf den Verhandlungspartner streicheln oder auf Distanz halten. Die Kanzlerin war sehr angetan von dem praktischen Gerät. Mit dem sich, so Fichtmüller, auch ganz vorzüglich Schnee vom Autodach fegen lasse.

Nun sind die Koalitionssondierungen geplatzt. An der Qualität der Bürste kann es nicht gelegen haben, die ist robust und reine Handarbeit. Im Warenlager der Oberlinwerkstätten auf Hermannswerder liegen derzeit nur noch wenige. Die Merkelbürste ist plötzlich gefragt: Am Tag nach dem Kanzlerinnenbesuch habe sogar das ARD-Hauptstadtstudio auf Hermannswerder angerufen, um zu fragen, was es mit der Bürste auf sich hat, erzählt Werkstätten-Geschäftsführer Daniel Klappenbach.

Kommunikation durch Klopfen

Fakt ist: Ohne Siegfried Becher gäbe es die berühmte Bürste nicht. Der 58-Jährige ist taubblind und verfügt nur über einen sehr kleinen Rest des Gehörs. Wenn sich Werkstattleiterin Kornelia Trinks mit ihm verständigen will, klopft sie ihm auf Arm oder Schulter und spricht mit ihm, indem sie mit den Fingerspitzen in seine Handfläche klopft und schreibt.

Die Bürstenwerkstatt ist ein klassischer Arbeitsplatz für sehbehinderte Menschen. Auf Hermannswerder wird ein ganzes Sortiment an Bürsten hergestellt, nicht nur Handfeger, auch Schuh- und Kleiderbürsten und robuste Straßenbesen. Die Produktion sei allerdings zuletzt etwas reduziert worden, es gibt nur noch wenige Besen-Wochen im Jahr, sagt Trinks: „Besen sind anderswo eben günstiger. Aber unsere sind besser, sie halten länger und können bei Bedarf hier auch repariert werden.“

Dass auch die Kanzlerin jetzt einen echten Oberliner bekommen hat, habe alle Mitarbeiter der Abteilung riesig gefreut. Und es sei auch für sie eine Überraschung gewesen. „Herr Fichtmüller bestellte eine Bürste, sagte aber nicht, für wen“, erzählt Trinks. Erst im rbb-Bericht haben sie gesehen, wer sie bekam. „Jetzt ist das für uns nur noch der Kanzlerinnen-Besen.“

Bündel für Bündel mit Gefühl

Siegfried Becher weiß das alles nicht. Aber er hat sie gemacht, hat Bündel für Bündel nach Gefühl abgemessen, in die Maschine vor ihm eingespannt, mit einem Fußhebel zusammengepresst, dann eine Drahtschlinge drumgebunden, mittig, damit man an der Stelle das Bündel knicken kann. Mit dem stumpfen Ende hat er das Bündel dann in ein Loch in der Holzplatte gesteckt und festgezurrt. Besen einziehen, heißt das im Fachjargon. Am liebsten sind Siegfried Becher dabei die weichen Ziegenhaare, Rinderschweif und Rosshaar. Die dicken Kunststoffborsten der Straßenbesen sind zu störrisch, dafür braucht man Kraft in den Fingern und Geduld.

Seit 1996 gibt es die Oberlinwerkstätten, 2002 zogen sie in das neue Gebäude auf Hermannswerder. Dazu gehören auch zwei Fahrradwerkstätten, eine Werkstatt für Digitalisierung und eine, in der Menschen mit psychischen Erkranken arbeiten. 65 Oberlin-Mitarbeiter kümmern sich um derzeit 398 Menschen, die in den Werkstätten beschäftigt sind – jeder nach seinen Fähigkeiten. „Und nach Tagesform“, sagt Michael Naewig. Denn zwar gibt es feste Arbeitszeiten, aber jeder habe eine andere Belastungsgrenze.

Michael Naewig koordiniert die Werkstätten untereinander und mit den Kunden. Denn bei Oberlin werden natürlich nicht nur Besen hergestellt. Ein immer stärker nachgefragter Bereich ist die Abteilung Aktenvernichtung. Hier werden Säckeweise Akten aus Arztpraxen und Kanzleien, Gehaltsabrechnungen, Bankunterlagen, Lottoscheine oder EC-Karten vernichtet. Der Bereich ist nur für Befugte zugänglich, aus Datenschutzgründen.

5000 Euro vorm Schredder gerettet

35 Mitarbeiter lösen hier Leitzordner auf und schieben körbeweise Papier in den Schredder, anschließend geht es in den Recyclingkreislauf. Dass hier die wenigsten lesen können, sei in diesem Fall von Vorteil. Aufmerksam sind die Mitarbeiter dennoch: Sonst hätten sie nicht das 5000-Euro-Bündel in einem Papierstapel gefunden. Der Besitzer, Inhaber eines Autohauses, spendierte Finderlohn für eine große Kaffeetafel.

Stefanie Schulz arbeitet in der Stuhlflechterei. Hier werden Stühle mit klassischem Korbgeflecht repariert. Das ist kniffelig, und Stefanie Schulz braucht für eine Sitzfläche etwa eine Woche. Ihre blinde Kollegin sei viel schneller, sagt sie etwas neidisch.

Es gibt eine Keramikwerkstatt, in der zurzeit die traditionellen Figuren der Oberlinkrippe entstehen. In einer der Montagehallen werden Kabelklemmen, in einer weiteren Lautsprecher, unter anderem für die Deutsche Bahn, montiert; in der modernen Pulverbeschichtungsanlage werden Autofelgen, Fahrrad- und Mopedteile in allen erdenklichen Farben lackiert.

Behinderte können mehr als "nur werkeln"

„Wir arbeiten hier mit moderner Technik“, sagt Klappenbach. „Wir würden gern weg von dem Image, dass Behinderte nur werkeln können.“ Und trotzdem ist die Merkelbürste zurzeit der Renner. Im Übrigen habe schon 2016 Grünen-Chefin Katrin Göring-Eckardt eine bekommen, sagt er. Nur die FDP habe keine. Und augenzwinkernd ergänzt Klappenbach: „Vielleicht ist das der Grund, dass die Verhandlungen nicht erfolgreich waren.“

Am 6. Dezember findet von 14.30 bis 18 Uhr in den Werkstätten ein Weihnachtsmarkt statt, außerdem am 9. Dezember auf dem Oberlingelände in Babelsberg

Zur Startseite