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Kinder im Gemeinschaftsraum des DRK-Heims am Stern. Auch hier ist es weihnachtlich geschmückt.

© Andreas Klaer

Weihnachten in Potsdam: Einfach nur da sein

20 Kinder wohnen derzeit im Potsdamer DRK-Heim Am Stern. Fast alle dürfen an Heiligabend zu ihren leiblichen Eltern – aber eben nur fast. Ein Besuch.

Von Katharina Wiechers

Mit ihrem Vater will sie nichts zu tun haben. „Mit dem verstehe ich mich nicht mehr“, sagt Jenny* knapp und zuckt mit den Schultern. Bei der Mutter würde die 15-Jährige gerne Weihnachten feiern, aber dort ist auch ihre Schwester, mit der sie nicht klarkommt. Also bleibt der Jugendlichen mit den gefärbten Haaren, den schmalen Lippen und dem überdimensionalen Schal um den Hals nur eins: Sie wird Heiligabend im DRK-Kinderheim Am Stern bleiben, wo sie seit rund einem Monat wohnt.

20 Kinder und Jugendliche leben derzeit hier, manche nur für ein paar Monate, andere viele Jahre lang. Die meisten dürfen mehr oder weniger oft zu ihren leiblichen Eltern, gerade zu Weihnachten holen viele ihre Kinder nach Hause. Obwohl auch gerade an Heiligabend viel schieflaufen kann.

Seit sieben Jahren lebt die Zwölfjährige im Heim

Patricia ist eines der Kinder, das Weihnachten nach Hause darf. Sie sagt, sie freue sich schon auf eine ganze Woche bei ihrem Vater, so lange wie fast noch nie wird sie dieses Jahr über die Feiertage bei ihm sein. Seit sieben Jahren lebt die mittlerweile Zwölfjährige schon in verschiedenen Heimen. Ihr Vater habe nicht genug Geld, erklärt sie diesen Umstand. Und die Mutter? Die könne sich auch nicht kümmern, sie sei „auf Kur“. „Weil sie zu viel abgenommen hat.“

Patricia sitzt im Aufenthaltsraum an einem großen Tisch, sie und ein paar andere Kinder aus der Einrichtung haben sich an diesem Nachmittag kurz vor Weihnachten hier zusammengefunden und erzählen. Eigentlich ist es ganz gemütlich in dem Raum, in der Ecke steht ein festlich geschmückter Weihnachtsbaum, auf einem der Sessel spielt der neunjährige Frederic mit dem Handy, auf dem Boden sitzen zwei Jungs im Kindergartenalter und bauen mit Legosteinen.

"Deshalb bin ich jetzt hier, weil es nicht mehr ging"

Auch Mia rutscht auf der langen Sitzbank hin und her und will unbedingt loswerden, warum sie seit einigen Wochen hier ist. „Mama und ich haben oft gestritten“, sagt die Neunjährige mit dem frechen Kurzhaarschnitt und dem rosa Einhorn-Shirt. Sie sei nicht immer brav gewesen, habe ihren drei Schwestern immer wieder Dinge weggenommen. „Mama hat mich manchmal gehauen. Sie hat gesagt, das will sie nicht mehr tun. Deshalb bin ich jetzt hier, weil es nicht mehr ging. Aber nur für zwei Jahre.“

Erinnerungen. In Mias Zimmer steht eine Katze auf dem Schreibtisch.
Erinnerungen. In Mias Zimmer steht eine Katze auf dem Schreibtisch.

© Andreas Klaer

An Weihnachten darf auch Mia nach Hause, zu Mama und den drei Schwestern, drei, zwölf und 14 Jahre alt, alle von unterschiedlichen Vätern. Mia fängt sogar an, die Namen aufzuzählen, gibt aber bald auf. Von ihrem leiblichen Papa hört sie auch nur selten was, sogar ihren Geburtstag habe er mal vergessen, sagt Mia und zieht die Augenbrauen nach oben.

Die Schwester sitzt im Rollstuhl

Dann holt Mia einen Bilderrahmen mit einem Foto von ihrer Mutter aus ihrem Zimmer und zeigt es stolz. Perfekt geschminkt lächelt ihre Mama da vom Bild, eine junge Frau mit dunkel gefärbten Haaren. Meistens dürfte sie allerdings wenig zu lachen haben, sie ist nicht nur alleinerziehend mit vier Kindern und lebt mit dem Makel, eine ihrer Töchter ins Heim „abgegeben“ zu haben, ihr jüngstes Kind hat auch eine schwere Krankheit. „Meine Schwester hat was mit den Füßen und sitzt im Rollstuhl“, sagt Mia. In der Schule hätten sie manche Kinder gehänselt, weil sie ins Heim gekommen sei. „Die haben meine Mama asozial genannt.“ Das hat Mia wirklich getroffen, das sieht man ihr an. „Weil, das stimmt ja gar nicht.“

Armut ist in fast allen Familien ein Thema

Ohnehin lässt kaum eines der Kinder hier etwas auf die Eltern kommen – obwohl sie es ja letztlich sind, die mit dem Elternsein überfordert und damit verantwortlich dafür sind, dass die Kinder im Heim leben müssen. Auch der 14-jährige Tom verliert kein schlechtes Wort über seine Mutter, auch wenn sie es oft nicht schafft, ihn und seinen Bruder wie verabredet an jedem zweiten Wochenende zu sich nach Hause zu nehmen. „Wir können nur zu ihr, wenn sie genug Geld hat“, sagt Tom verständnisvoll. „Sie darf nicht arbeiten.“ Warum? „Sie darf nur noch Ein-Euro-Jobs machen. Das will sie natürlich nicht.“

Armut ist in fast allen Familien seiner Schützlinge ein Thema, sagt Thorsten Häcker, der das Heim Am Stern seit gut zwei Jahren leitet. Auch Abhängigkeit spielt manchmal eine Rolle, ebenso psychische oder körperliche Krankheit. „Dazu kommen dann manchmal noch mehrere Kinder, dann sind die Eltern schlicht überfordert“, erzählt Häcker. „Die lieben ihre Kinder alle“, ist er überzeugt. „Aber manche sind eben so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Kinder aus den Augen verlieren.“ Oft seien es Kitas oder Schulen, die zuerst darauf aufmerksam würden, dass zu Hause einiges schiefläuft – etwa weil das Kind im Winter mit dünnen Schuhen herumläuft oder nie Essen dabei hat. In wenigen krassen Fällen komme es zu Inobhutnahmen durch das Amt und gegen den Willen der Eltern, sagt Häcker. In den meisten Fällen sehen es die Eltern aber ein, dass sie überfordert sind und dass die Kinder zumindest vorübergehend besser in einer Einrichtung der „Hilfe zur Erziehung“ aufgehoben sind.

"Wir können nur da sein, stabil sein", sagt der Heimleiter.

„Die Eltern bleiben aber immer die wichtigsten Bezugspunkte“, betont Häcker. Auch, wenn zu Hause viel Unschönes vorgefallen sei. Auch, wenn die Eltern nur einmal im Monat zu Besuch kommen. „Und auch, wenn sie nicht mal dann auftauchen und das Kind mit großen Augen am Fenster steht und vergeblich wartet.“ Einen echten Elternersatz darstellen können er und seine zwölf Mitarbeiter nicht. „Wir können nur da sein, stabil sein.“

Häcker betont aber auch, dass solche Fälle eher die Ausnahme als die Regel seien. Die meisten Eltern hielten sich an die Absprachen und holten ihre Kinder regelmäßig alle zwei Wochenenden ab. An den anderen Wochenenden unternehmen die Kinder etwas mit den Erziehern, gehen in den Zoo oder die Biosphäre. Neulich sogar ins Tropical Islands, eine Spende hat das möglich gemacht.

Die Kinder sollen lernen, dass ihre Stimme wichtig ist

Wenn Häcker von den Kindern spricht, kommt er regelrecht ins Schwärmen. „Wir haben hier so eine Energie, so tolle Persönlichkeiten“, sagt er. Verhaltensauffällige Kinder gibt es nach seiner Definition nicht, sie gehen eben nur alle unterschiedlich mit Problemen um. Er will den Kindern, die angesichts der Krisen in den Familien oft die eigene Anpassungsfähigkeit perfektioniert haben, um den Eltern nicht noch mehr „zur Last“ zu fallen, wieder Selbstbewusstsein geben. „Sie sollen wieder lernen, dass ihre Stimme wichtig ist.“

Vorher hat der gebürtige Stuttgarter elf Jahre in der Suchthilfe in Berlin gearbeitet, dann bewarb sich der Vater von heute 14-jährigen Zwillingen auf die freigewordene Heimleiter-Stelle in Potsdam. „Ich habe das total unterschätzt. Und andererseits ist das der tollste Job, den ich je gemacht habe.“ Eifersüchtig auf seine Heimkinder seien seine Jungs nie gewesen, sagt Häcker. „Ich habe ihnen erklärt, was ich hier mache und dass ich hier auch mal ein Kind in den Arm nehme“, sagt er. Heute seien die Zwillinge manchmal sogar bei gemeinsamen Ausflügen dabei.

Die Tafel hat eine Spalte für jeden Bewohner

Im Heim sind die Kinder in zwei Neunergruppen sowie eine Jugend-WG mit zwei Jugendlichen aufgeteilt. In den „familienanalogen Wohngruppen“, von denen es in Potsdam insgesamt 18 mit insgesamt 141 Plätzen gibt, wohnen die Kinder im Heim Am Stern jeweils zu zweit in einem Zimmer. In jedem Raum stehen ein Stockbett, ein Schreibtisch, ein Schrank und ein Regal. Die Böden sind mit dunklem Teppich ausgelegt, an den Wänden hängen Poster. „Die Eiskönigin“ bei den Mädchen, „Spiderman“ bei den Jungs, soweit alles ganz normal.

Nur dass nicht zwei Eltern, sondern ein Team von zwölf Erziehern im Schichtsystem auf die Kinder aufpassen. Die Mitarbeiter holen sie von der Kita oder Schule ab, machen mit ihnen Hausaufgaben, essen mit ihnen zu Abend, schicken sie abends pünktlich ins Bett. Damit alle den Überblick behalten, welches Kind wann geholt werden muss, wer welche Creme auftragen soll und welcher Teenie beim Rauchen erwischt wurde, hängt im Erzieher-Zimmer eine große weiße Tafel mit einer Tabelle – eine Spalte für jeden Bewohner.

Heiligabend geht es ins Restaurant, dann wieder ins Heim

Es gibt Tag-, Abend- und Nachtschichten, natürlich muss rund um die Uhr jemand da sein. Eher unbeliebt ist verständlicherweise der Dienst an Heiligabend, räumt eine der Erzieherinnen ein. Aber die Kollegen wechseln sich ab, so sei das völlig in Ordnung. Dieses Jahr ist eine junge Kollegin an der Reihe, sie hat noch keine eigenen Kinder. Geplant ist, mit den beiden Mädchen, die dieses Jahr im Heim bleiben, in ein Restaurant nach Babelsberg zu gehen. Anschließend gibt es Bescherung im Heim. Neben Jenny ist es Joy, die Weihnachten hier sein wird. Sie lebt schon seit mehr als drei Jahren im Heim. Ihre Mutter hat Drogenprobleme, rafft sich zwar immer wieder auf und versucht, sich um die Kinder zu kümmern, scheitert aber ein ums andere Mal. „Eine extrem liebe Person“, sagt Häcker. „Aber sie schafft es einfach nicht.“ Auch nicht zu Weihnachten.

Doch auch bei den Kindern, die Heiligabend bei den Eltern verbringen, läuft nicht immer alles harmonisch ab. Gerade zu Weihnachten sei der „Familiendruck“, wie Häcker es nennt, besonders hoch, was vor allem an den hohen Erwartungen liegt, die Eltern und Kinder an das Fest haben. „Wenn es dann knallt, sind wir natürlich da“, sagt er. So wie immer eben. Auch wenn es eben nur ein „da sein“ sein kann.

*alle Namen der Bewohner wurden von der Redaktion geändert

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