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Landeshauptstadt: Wege in die DDR-Opposition

Die Stasi-Beauftragte Ulrike Poppe über ihre Arbeit als Erzieherin im DDR-Kinderheim Alt-Stralau

Babelsberg - „Ich war ein Teil davon“: In sehr bewegender und persönlicher Weise hat die DDR-Bürgerrechtlerin und Stasi-Beauftragte des Landes Brandenburg, Ulrike Poppe, den gestrigen 22. Jahrestag des Mauerfalls dazu genutzt, das öffentliche Augenmerk auf das Schicksal von DDR-Heimkindern zu lenken. Spezial- und Durchgangsheime für Kinder und Jugendliche gehörten „zu den dunkelsten Kapiteln der DDR-Geschichte“, erklärte Ulrike Poppe an der Mauergedenkstätte am Griebnitzsee. Für die Menschen, die in diesen Heimen zu Opfern wurden, werden ab nächstes Jahr Entschädigungszahlungen möglich sein. Dies allerdings sei mehr der Tatsache geschuldet, dass die Geschichte der Kinderheime im Westen Deutschlands aufgearbeitet wird, „da konnte man die Ostheimkinder nicht ausschließen“, erklärte die 1953 in Rostock geborene ehemalige DDR-Oppositionelle, seit März 2010 die erste Brandenburger „Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur“.

Obwohl für das kühle Herbstwetter mit einer dünnen Jacke viel zu leicht bekleidet, begann Ulrike Poppe den wenigen Beteiligten, die auf Einladung des Forum-Vereins zur kritischen Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte zu der Gedenkstunde gekommen waren, von ihrer Zeit als Hilfserzieherin im Berliner Durchgangsheim in Alt-Stralau zu berichten. Es war um 1973, die junge Frau hatte gerade ihr Pädagogikstudium abgebrochen, wollte Psychologie studieren, bekam aber keinen Studienplatz. Sie nahm die Stelle im Heim an, unerfahren und mit Ambitionen. Gelesen hatte sie das Buch „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ von Alexander Sutherland Neill, aber die Realität in dem Heim habe die Umsetzung derartiger Ideale unmöglich gemacht. In das Heim kamen beispielsweise Kinder, deren Eltern aus der DDR geflohen waren. Geschwister wurden rücksichtslos getrennt, eine psychologische Betreuung gab es nicht.

Ulrike Poppe berichtet von gynäkologischen Zwangsuntersuchungen von sechsjährigen Mädchen und selbst von Mädchen, die Opfer sexueller Gewalt waren. Ein Mädchen habe danach tagelang nicht mehr gesprochen. In dem Jahr, in dem sie in dem Heim arbeitete, habe es allein sieben Selbstmordversuche gegeben. „Die meisten Flucht- oder Selbstmordversuche geschahen in meiner Schicht, weil ich nicht so streng war, sein konnte.“ Manche Kinder hätten ätzenden Bohnerwachs getrunken, um so ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Oft habe sie Kinder in andere Heime überführen müssen. Ein Junge sei dabei vor ihren Augen aus der fahrenden S-Bahn gesprungen; sie wisse nicht, was aus ihm geworden ist. Bei so genannten schwererziehbaren Jugendlichen sei die Heimleitung oft froh gewesen, wenn die Kinder 14 Jahre alt wurden. Dann konnten sie ins berüchtigte Gefängnis Torgau überführt werden. Sie habe einmal persönlich einen 14-jährigen Jungen nach Torgau gebracht. Ulrike Poppe: „Die Schuld, ihn in Torgau abgeliefert zu haben, werde ich nicht mehr los.“

Diese Erfahrungen „haben letztlich dazu geführt, dass ich mich gegen das Regime gestellt habe“, erklärte Ulrike Poppe. Viele Erzieher seien mit besten Vorstellungen in die Heime gekommen „und an den Strukturen gescheitert“. Bei Versuchen, nach der Wende die Kinderheime zu thematisieren, sei sie auf „unglaublich viel Abwehr gestoßen“. Bis jetzt sei die Aufarbeitung schwierig.

Erst 2010 hatte der Schriftsteller Peter Wawerzinek mit seinem Roman „Rabenliebe“ auf die Geschichte der Heimkinder in der DDR aufmerksam gemacht – durch die Schilderung seiner eigenen Kindheit.

In ihrer offiziellen Gedenkrede ging Ulrike Poppe auf den 9. November als Schicksalstag der Deutschen ein. „Helle und dunkle Ereignisse“ geschahen an diesem Tag: 1848 die Erschießung des Demokraten und Republikaners Robert Blum, die Ausrufung der Republik 1918 durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann und der Räterepublik zwei Stunden später durch Karl Liebknecht, die Reichspogromnacht 1938, Auftakt für die Judenvernichtung im Holocaust, letztlich der Mauerfall 1989. Mauerfall klinge ein wenig danach, als ob die Mauer von selbst zusammenfiel, erklärte Ulrike Poppe. Doch es seien die Ostdeutschen gewesen, die die Mauer zum Einsturz brachten – im Zuge ihrer Entwicklung „vom Untertan zum Bürger“.

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