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Waldorf-Ästhetik. Eurythmie, eine antroposophische Bewegungskunst, ist ein Pflichtfach in den Schulen.

© Simone Sonntag

Waldorfschule in Potsdam: Das Ende der Versteinerung

In der Potsdamer Waldorfschule lebt das alte Schulmodell in moderner Form weiter. Das pädagogische Konzept ist inzwischen 100 Jahre alt. Die Anfänge in Potsdam waren illegal.

Potsdam - Es ist ein anmutiges Bild im hallenartigen Pausenraum der Potsdamer Waldorfschule: Umgeben von zwei Dutzend Mitschülern, die sich ausgelassen die Zeit vertreiben, sitzt die zehn Jahre alte Janina selbstvergessen an einem schwarzen Klavier wie auf einer Insel. Das turbulente Drumherum nimmt sie nicht wahr, flink gleiten ihre Finger über die Tasten, fehlerfrei improvisiert sie klassische Themen. Wie lange sie schon Klavierunterricht hat? „Gar nicht“, sagt sie, „ich hab’ mir das mit YouTube beigebracht.“

Janina darf in der Pausenhalle spielen, wann immer sie mag. Es gehört zu den Besonderheiten der Waldorfschulen, dass Schülern Raum gegeben wird für Kreativität.

Die Potsdamer Waldorfschule ist ein Teil „der erstaunlichsten und erfolgreichsten deutschen Bildungsideen des letzten Jahrhunderts“, wie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) das Wirken der „Waldis“ im September zum 100-jährigen Bestehen würdigte. In Deutschland werden an 245 Schulen rund 85.000 Pennäler unterrichtet, zudem ist das Modell ein Exportschlager: Es gibt rund 1200 Schulen rund um den Globus, in brasilianischen Favelas ebenso wie in südafrikanischen Townships und im US-amerikanischen Silicon Valley.

Seine Beliebtheit ist unter den Eltern vieler Vorurteile zum Trotz beeindruckend. „37 Lehrer und zwei Förderlehrer unterrichten 330 Schüler, aber wir können leider niemanden mehr aufnehmen“, sagt Simone Sonntag, die seit 24 Jahren Geschäftsführerin in Potsdam ist. Immerhin zehn Kinder haben ausländische Wurzeln. Nicht besser ist die Lage in der Waldorfschule „Christian Morgenstern“ im nahen Werder (Havel). 275 Schüler lernen dort, werden aber Erstklässler aufgenommen, gibt es knapp dreimal so viele Bewerbungen wie Plätze.

Sabine Sonntag.
Sabine Sonntag.

© privat

Gegen Vorurteile durchgesetzt

Die Anfänge waren in Potsdam nicht einfach. Die DDR hieß noch Ostzone, als die SED Waldorfschulen schloss, weil sie „keinen klassenkämpferischen Charakter“ hätten. Doch seit 1985 traf sich in Potsdam ein Kreis von Mutigen, die sich mit der Anthroposophie beschäftigten – illegal in Privatwohnungen und im Visier der Stasi. Im Dezember 1989, kurz nach der Maueröffnung, verabredeten sich Interessierte erstmals im Gemeinderaum der evangelischen Kirche in Babelsberg, 200 Bürger kamen.

Nun war die Bewegung nicht mehr aufzuhalten. 1991 gründeten Potsdamer Bürger die Waldorfschule, 2001 zog sie in die schmucklose, renovierungsbedürftige frühere Realschule 28 in der Waldstadt um. Das Unvollkommene war ein Glücksfall: Die Klassenräume messen höchstens 49 Quadratmeter, mehr als 26 Schüler können darin nicht unterrichtet werden. In anderen Waldorfschulen gibt es Klassenstärken bis zu 40 Kinder.

Waldorfschule im Osten noch verpönt

Die Idee setzte sich auch in Potsdam gegen eine Fülle von Vorurteilen gegen die anthroposophische Pädagogik durch. Landauf, landab sehen sich Waldorf-Schüler bis heute beißendem Spott ausgesetzt. Ihnen werde in ihrer Wellnessoase nichts abverlangt, sie lernten Kuchenbacken und Gartenarbeit. Zensuren gebe es nicht. Und weil viele Zeitgenossen erst einmal ablehnen, was ihnen fremd ist, kichern sie darüber, dass im Fach Eurythmie, einer anspruchsvollen Bewegungskunst, das Tanzen von Buchstaben erlernt wird – bis zum Tanz des Namens.

Begeistert vom Konzept. Die 13. Klasse der Waldorfschule Potsdam.
Begeistert vom Konzept. Die 13. Klasse der Waldorfschule Potsdam.

© Carsten Holm

Die jungen Frauen und Männer der 13. Klasse, die da in der Potsdamer Schule sitzen und Auskunft geben, kennen die Ressentiments. „Sagt man, dass man auf einer Waldorfschule ist, fallen unnötige Kommentare. Auch jetzt im Abi noch. Viele Menschen glauben, dass wir nicht in der Lage sind, ein zentrales Abitur zu bestehen“, erzählt die 18 Jahre alte Emma Enderlein. Dabei verlassen im Bundesdurchschnitt etwa die Hälfte der Waldorfschüler die Schule mit dem Abitur – wie auf den Staatsschulen. In Potsdam wird die Abiturprüfung in Zusammenarbeit mit der Abendschule abgelegt.

„Hier im Osten wird die Waldorfschule immer wieder verpönt“, sagt der 18-jährige Ben Gieselmann. Er habe in Kassel und München Schulen besucht, dort gebe es eine Bushaltestelle mit dem Namen Waldorfschule. So etwas könne er sich „hier kaum vorstellen“.

Fernseher vor dem Klassenlehrer versteckt

Auf ihrem langen Weg von der Gründung im Jahr 1919 durch Emil Molt, dem Eigentümer der Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, bis zu den Schulen in Potsdam und Werder hat die Bewegung eine Menge Ballast abgeworfen. Molt, ein Sozialreformer und Anthroposoph, hatte die erste Waldorfschule vor allem für die Kinder seiner Arbeiter gegründet. Die Schulleitung übertrug er dem Österreicher Rudolf Steiner, dem Begründer der spirituellen, esoterischen Weltanschauung der Anthroposophie – es war das erste Gesamtschulmodell.

Lange Zeit mussten sich die Waldorfianer gegen teils massive Kritik an ihrem Meister verteidigen. Nicht ohne Grund: Haarsträubend ist manches, das Steiner in seinen Werken von sich gab. Der „Neger“, faselte er beispielsweise, sei schwarz, weil er alles Licht aus dem Weltenraum aufsauge. Der habe „dieses Kochen in seinem Organismus“ und daher „ein starkes Triebleben“, aber auch „ein furchtbar schlaues und aufmerksames Auge“.

Das Geschwurbel könnte heute ein Fall für den Staatsanwalt sein. Erst 2007 rang sich der Bund der Freien Waldorfschulen in der sogenannten Stuttgarter Erklärung dazu durch, sich von dieser Form des Rassismus zu distanzieren. Eltern mussten aber auch viele Verrücktheiten hinnehmen, die ihnen Verfechter der reinen Lehre zumuteten. Sie versteckten bei Hausbesuchen des Klassenlehrers ihren Fernseher, sie wehrten sich nicht, wenn ihre Kinder eine bunte Haarsträhne zurück zur Natur frisieren mussten.

Die Zahl der Versteinerten ist erheblich kleiner geworden, in Potsdam haben die Hardliner „nie eine Rolle gespielt“, sagt die Geschäftsführerin. Die Oberstufenschüler sind völlig gelassen, wenn es um Steiner geht. „Wir wissen ziemlich wenig über ihn, weil uns im Unterricht quasi nichts über ihn und die Anthroposophie beigebracht wurde“, sagt Emma Enderlein. Ben Gieselmann erzählt, er habe aus Interesse einige Steiner-Bücher gelesen, „aber damit bin ich unter meinen Mitschülern ziemlich allein“.

Die andere Idee vom Lernen

Keine subtile Infiltration mit Ideen aus der kruden Welt des Esoterikers Steiner also. Die beiden Söhne von Geschäftsführerin Sonntag haben ihr Abitur auf dieser Schule bestanden, auf die Frage, ob sie die Jungen anthroposophisch erzogen habe, antwortet sie lächelnd: „Ich bin in der DDR sozialisiert worden und habe an der Ost-Berliner Humboldt-Universität studiert. Aber ich bin von unserem pädagogischen Ansatz überzeugt.“

Die Eltern vertrauen ihre Kinder den Schulen an, weil sie deren Konzept für sinnvoll halten. Die andere Idee vom Lernen ist auch in Potsdam unübersehbar. Das Klassenzimmer, das erfahren schon die Erstklässler, soll auch ein Ort des Lebens sein. Sie frühstücken dort und halten ihn sauber. In der siebten Klasse werden Figuren für ein Marionettentheater hergestellt, in der achten paddeln Schüler bis zur Erschöpfung auf der Havel und lernen einen biologisch-dynamischen Bauernhof kennen. In der neunten Klasse lesen sie die Spuren von Rehen, Wildschweinen und Füchsen und lernen, Vogellaute zu deuten – alles in Ergänzung zum Unterricht. Auch Jungen können Häkeln, Stricken, Kochen und Backen, in der Oberstufe steht ein Feldmesspraktikum auf dem Programm, später ein fünfwöchiges Betriebspraktikum. Eine Klasse hat eine Firma gegründet und lässt T-Shirts mit dem Aufdruck „Waldorfschule Potsdam“ in Indien drucken. Schüler reisten in die Fabrik, um die Arbeitsbedingungen zu inspizieren.

Das Menschenbild, das den „Waldis“ vermittelt wird, lässt offenbar keinen Raum für Populismus. Bei der EU-Juniorwahl wählten zwei Drittel der Potsdamer Waldorfschüler die Grünen, Die Partei kam vor den Linken auf den zweiten Platz, die CDU wählte niemand.

Vor sieben Jahren nahm die Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität das Modell Waldorf unter die Lupe. Das Ergebnis schmeichelte den „Waldis“: Sie würden begeisterter, individueller und mit weniger Leistungsdruck lernen, ihr Verhältnis zu Lehrern sei erheblich besser als an Staatsschulen und sie hätten weit weniger Schlafstörungen.

Wenig Drogenprobleme

Unbestritten ist, dass Spätentwickler bessere Chancen haben, die Schule mit Erfolg zu beenden. Und es geht friedlicher zu unter den „Waldis“: Gewalt unter Schülern komme in Potsdam, so Geschäftsführerin Sonntag, nicht vor, es gebe keinen Vandalismus und nicht einmal Graffitis an den Wänden. Auch das Drogenproblem, mit dem sich viele staatliche Schulen mühen, spiele eine untergeordnete Rolle. Die Schüler stören sich nicht daran, was Kritiker monieren: In der Regel werden sie von einem Lehrer bis zur achten Klasse unterrichtet. „Wir sind extrem verwöhnt von der sozialen Gemeinschaft“, sagt Lara Rohmann aus der 13. Klasse.

Den Eltern ist es viel Geld wert, ihre Kinder zur Waldorfschule zu schicken. Sie zahlen Monat für Monat zwischen 130 und 390 Euro. Aber niemand soll ausgeschlossen bleiben, wenn er wenig Geld hat: In Ausnahmefällen gibt sich die Privatschule mit 30 Euro zufrieden, sechs Eltern sind völlig befreit.

Anbau erforderlich

Die Schule hofft, sich 2020 einen Traum erfüllen zu können. Die Baugenehmigung für einen Anbau mit einer Turnhalle samt Mehrzweckraum auf dem Areal der Schule ist gestellt. „Wir machen viel Theater“, sagt Simone Sonntag. „Wir brauchen das dringend.“ Die Baukosten in Höhe von vier Millionen Euro müssen über einen Kredit finanziert werden, die Elternbeiträge sollen dennoch nicht erhöht werden. „Wir setzen auf die neue Landesregierung“, sagt Sonntag. „Sie hat ja angekündigt, die Schulen freier Träger mehr zu fördern.“ „Viele Eltern“, fügt sie hinzu, „finden es nicht gerecht, dass sie die Staatsschulen über ihre Steuern mitfinanzieren und dann noch viel Geld für freie Schulen wie unsere entrichten müssen.“

Carsten Holm

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