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Von Werner Kurzlechner: Eine Schule erfindet sich neu

Wie es ist, Gemeinschaftsschule zu werden. Ein Besuch in Treptow

Sogar die angehenden Abiturienten der Anna-Seghers-Gesamtschule in Adlershof machen derzeit verblüffende Erfahrungen, weil sich ihre Schule zur Gemeinschaftsschule wandelt. „In der Pause stehe ich jetzt plötzlich mit Siebtklässlern zusammen“, sagt Enrico Kannegießer aus der 13. Klasse. „Das hätte ich früher nie gemacht.“ Auch Tina Daniel aus dem gleichen Jahrgang staunt über sich selbst: Sie habe jetzt manchmal Lust, noch einmal in der ersten Klasse zu beginnen. So in etwa hat sich Schulleiterin Angelika Jurczyk das gedacht mit dem „neuen Zusammengehörigkeitsgefühl“, von dem sie schwärmt.

Nicht zufällig erfasst die Aufbruchstimmung auch Schüler, die selbst gar keine Gemeinschaftsklassen besuchen: Enrico bringt jeden Dienstag Siebtklässlern HipHop- und Streetdance bei. Die Schüler lernten, „ein bisschen wie Britney Spears“ zu tanzen, sagt er. Und da bleibe es nicht aus, dass man auch mal in der Pause plausche. An zwei Tagen pro Woche besuchen die Gemeinschaftsschüler aus der siebten Klasse jeweils eine von acht Arbeitsgemeinschaften. Einige AGs leiten Lehrer, die Streitschlichter ausbilden und Theater oder Sprachförderung anbieten.

Andere werden von externen Partnern betreut: Eine Autorin hilft bei der Gestaltung der Jahrgangszeitung, eine Polizistin bietet Anti-Gewalt-Training an, Mitglieder des Grimau-Clubs bieten Sport, und die Kinderakademie Meteum vermittelt naturwissenschaftliche Kenntnisse. Daneben schlüpfen auch ältere Schüler wie Enrico in die Rolle von AG-Leitern.

Auch die ganz Kleinen müssen sich nicht alleine durchs Schulleben kämpfen. Um jeden Erstklässler kümmert sich ein Pate aus dem 13. Jahrgang. „Ich rede viel mit meinem Patenkind und spiele mit ihm“, sagt die von ihrer Aufgabe begeisterte Tina Daniel. Sie sei auch Ansprechpartnerin für die Eltern, die sie jederzeit auf dem Handy anrufen könnten.

Die beiden ersten Klassen lernen in einem bunt bemalten Provisorium im Hof des wilhelminischen Baus und sind die ersten Grundschüler an der Schule überhaupt. Vor allem um sie jetzt hier zu haben, habe das Kollegium den Schritt zur Gemeinschaftsschule gewagt, berichtet die Direktorin. Denn unzufrieden war ihr Kollegium oft mit dem, was die Kinder aus der Grundschule an Können mitbrachten. Dafür möchten sie künftig lieber selbst sorgen – und es besser machen.

Ins Kollegium kamen deshalb zwei Grundschullehrerinnen, von deren Erfahrungen die anderen profitieren wollen: „Schließlich unterrichten die Grundschulen schon immer alle Kinder aus einem Jahrgang – eben wie an einer Gemeinschaftsschule.“ Sie hätten gelernt, auch in sehr heterogenen Schülergruppen jedes Kind angemessen zu fördern.

So manches muss sich bei aller Begeisterung aber noch einspielen. Da haben die siebten Klassen jetzt also einen eigenen Trakt, wo sie bis zum Schulabschluss gemeinsam lernen sollen. Auch an einen Gruppenraum mit Büchern haben sie gedacht. Aber da steht fragend ein Junge vor verschlossener Tür und will wissen, wann der Raum eigentlich zugänglich sei.

Derlei werden sie nach und nach in den Griff bekommen. Gemeinsam – so wie auch die Sprachlehrer einmal wöchentlich im Miteinander offene Fragen klären. Die Englischlehrerinnen haben sich gerade darauf geeinigt, zwei der Klausuren in allen Klassen identisch zu gestalten. So können sie die jeweiligen Lernfortschritte untereinander vergleichen. „Wir sind voller Elan“, sagt auch Deutschlehrerin Karola Braungardt. Sie tüftelt an Aufgaben, die den besonders klugen Schülern Kopfzerbrechen bereiten sollen.

Hier geht es um die wohl größte Beweislast, die die Gemeinschaftsschulen zu schultern haben. Sie müssen Wege finden, auch begabte Kinder angemessen zu fördern. Schulleiterin Jurczyk ist überzeugt, dass das hier mindestens so gut gelingen wird wie in den Gymnasien. Die sind ihrer Ansicht nach zu behäbig geworden. Wie es anders laufen kann, finden sie an der Anna-Seghers-Schule gerade selbst heraus. In den siebten Klassen sind die Tische und Stühle zu Lernplätzen für jeweils vier bis fünf Schüler zusammengerückt. In festen Gruppen sollen sie hier lernen: Schwächere Schüler sollen von ihren schlauen Nachbarn profitieren.

So wie im Erdkundeunterricht: Jede Gruppe soll möglichst bildlich die Pflanzenwelt einer bestimmten Klimazone darstellen. Also kleben sie Fotos von Nadelbäumen auf oder malen Sonnenblumen. „In der Grundschule haben wir immer nur mit Text gearbeitet“, sagt Justin. Das habe er oft nicht verstanden, so gefalle ihm das viel besser.

Nach ihrer Präsentation erhalten die Schüler keine Noten, sondern Leistungspunkte – maximal 15. Wer wie viele bekommt, müssen sie untereinander aushandeln. Denn sie werden zunächst einmal für die gemeinsame Leistung bewertet. Eine Vierergruppe bekommt für eine glatt gute Präsentation beispielsweise 44 Punkte, im Durchschnitt elf für jeden. Wenn sich jemand besonders engagiert hat, können ihm die Kameraden eine Extraportion Punkte gönnen. Dafür müssen sie dann aber selbst zurückstecken.

Mehr Fotos unter www.tagesspiegel.de/schule

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