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Von Thomas Loy: Hilfe vom großen Bruder

Fatma Bläser kämpft gegen Zwangsehen und Gewalt – aus eigener Erfahrung. Ein Besuch in der Neuköllner Reichwein-Schule

Die Unterrichtsthemen für heute: „Zwangsheirat, Gewalt, Ehrenmorde, Unterdrückung“. 30 Schüler aus den sechsten Klassen der Adolf-Reichwein-Schule in Nord-Neukölln sollen lernen, sich gegen archaische Traditionen zur Wehr zu setzen. Heute haben die Schüler eine außergewöhnliche Lehrerin zu Gast, Fatma Bläser. Fatma Bläser ist in der Türkei geboren, kam mit neun Jahren nach Deutschland, wurde zwangsverheiratet, entkam knapp dem Todesurteil ihrer Familie und hat darüber ein Buch geschrieben. Mucksmäuschenstill wird es, als die 44-Jährige aus ihrem Leben erzählt.

Auf die Reichwein-Schule gehen Kinder mit Lernschwierigkeiten, vorwiegend aus Familien, in denen Bildung kaum wertgeschätzt, in Einzelfällen sogar als Bedrohung angesehen wird. Rund 80 Prozent der Schüler haben ihre Wurzeln im Libanon, arabischen Ländern, der Türkei und Ex-Jugoslawien. Frühes Heiraten mit einem Verwandten erleben viele Kinder als selbstverständlich. Mit 16 Jahren, manchmal schon eher, wird die Ehe im jeweiligen Heimatland geschlossen – oft auch illegal in Deutschland. Schule, Ausbildung und Beruf spielen dann keine Rolle mehr.

„Ich habe das Ausmaß des Problems selber unterschätzt“, sagt Rektor Jens-Jürgen Saurin. „In jeder Oberschulklasse gibt es zwei Kandidaten, die verheiratet werden sollen. Schon 13-jährige Jungen werden Väter und kommen dann nicht mehr zur Schule.“ Mädchen, die früh verheiratet werden, fehlen im Unterricht, weil sie im Haushalt der Schwiegereltern arbeiten müssen. Das Unterlaufen der Schulpflicht wird von den Eltern gedeckt. Deshalb will die Schule mit Hilfe von Quartiersmanagement, Stadtteilmüttern und Jugendamt stärker auf die Familien einwirken. „Unser Minimalziel ist, dass die Kinder erst nach dem Ende der Schulpflicht heiraten“, sagt Saurin.

Fatma Bläser steckt ihre Ziele weiter. Schon ihr Auftreten – lange schwarze Haare, modischer Gürtel und gefährlich hohe Schuhabsätze – macht besonders den Jungs Eindruck. Alle geben sich aufgeklärt, beteuern, dass sie ihrem Vater widersprächen, sollte er ihre Schwester zur Heirat zwingen. Fatma macht ihnen Mut. „Ich glaube an euch.“ Die Mädchen sprechen nur verschämt in Andeutungen. Sie könnten ihren Mann schon selber aussuchen, solange er die richtige Religion habe und aus dem richtigen Land komme.

Fatma versucht ein szenisches Spiel. Sulejman*, ein bosnischer Junge, meldet sich für die Rolle des Bruders, der seinem Vater die Zwangsheirat der Schwester ausreden soll. Er hüpft herum, bricht immer wieder in Lachen aus, entschuldigt sich zuletzt, er sei kein guter Schauspieler. Dann straffen sich seine Züge. Fatma Bläser hat gerade gesagt, eine Zwangsehe bedeute auch Vergewaltigung. Sulejman ist verwirrt, möchte widersprechen: „Wieso das denn?“ Sulejman hat eine ältere Schwester, die zwangsverheiratet wurde. Bisher dachte er sich nicht viel dabei.

Die Lehrer sind skeptisch, was die Erfolgsaussichten des heutigen Unterrichts anbelangt. Im Wettbewerb mit den Wertvorstellungen der Eltern würden sie eher den Kürzeren ziehen, sagen sie. Und: „Unsere Schüler sind prädestiniert dafür, sich nicht wehren zu können.“ Erzieherin Simone Jerisch, die Fatma in die Schule geholt hat, setzt dagegen auf die Diskussionen innerhalb der Schülergruppen. Einige wussten bisher gar nichts von Ehrenmorden und dem Schicksal von Hatun Sürücü, die von ihrem Bruder in Berlin auf offener Straße ermordet wurde.

In der Pause auf dem Hof haben sich drei Mädchen aus der 8. Klasse untergehakt. Sie werden erst morgen auf Fatma treffen und geben sich präventiv gelangweilt. Das Thema Zwangsheirat interessiere sie nicht, sagt die 15jährige Evin*, die im Sommer nach Anatolien fliegen wird, um ihren Cousin zu heiraten. „Meine Mutter sagt, er sei sehr nett.“ Besser einen Ehemann als gar keinen Mann. „Wir dürfen ja keinen Freund haben.“ Die Schule werde sie nicht vermissen. Ihrem Mann den Haushalt führen, Kinder kriegen, das sei alles okay für sie. „Und wenn er mich verlässt, dann schießen wir ihn ab – bumm“ – sie lacht und beharrt darauf, es ernst zu meinen. „Bei uns ist das so.“

Ihre 14jährige Freundin Sahra* - sie stammt aus Palästina – rechnet damit, in zwei oder drei Jahren zu heiraten. „Meine Mutter möchte einen Mann, der den Koran liest, viel betet und einen guten Job hat.“ Wenn die Mutter jemanden vorschlägt, könne sie immer noch Ja oder Nein sagen. Ihren Beruf – sie möchte Verkäuferin werden – müsste sie als Ehefrau allerdings aufgeben.

Nicht alle Mädchen sind bereit, sich den Traditionen zu unterwerfen. Wann immer Fatma Bläser in Schulen auftritt, rufen anschließend einige Mädchen oder auch ihre Mütter an, um Rat zu bekommen. Wenn sie dann zu den Familien nach Hause geht, sind die Männer nicht da.

*Namen geändert

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