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Von Matthias Jekosch: Weihnachten im Westen

Viele Flüchtlinge aus der DDR feierten im Notaufnahmelager Marienfelde

Berlin - Die Stube ist winzig, ein Tisch in der Mitte, Etagenbetten, Bundeswehrdecken auf den Matratzen. „Wie wollen Sie da Weihnachten feiern?“, fragt Albrecht Roos und zeigt in den Raum in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, der den Original-Räumen für DDR-Flüchtlinge nachempfunden ist. Der heute 71-jährige flüchtete im September 1961 in den Westen und lebte 14 Tage in Marienfelde. Die Feiertage musste er im Gegensatz zu vielen anderen aber nicht dort verbringen. Er feierte mit Verwandten in Westdeutschland.

Bescherung gab es auch in Marienfelde, aber eben nicht so familiär. An manchen Tagen kamen damals mehr als tausend Flüchtlinge aus der Deutschen Demokratischen Republik in das Notaufnahmelager, wo sie in einer großen Halle auf dem Boden campierten. Die Evangelische Flüchtlingsseelsorge beispielsweise organisierte mit Hilfe von Spenden kleine Weihnachtsfeiern. Für die Kinder gab es kleine Säckchen mit Süßigkeiten. Die Erwachsenen erhielten oft eher nützliche Sachen, beispielsweise Nähzeug.

Wie dies genau ablief, zeigt die Sonderausstellung „Weihnachten W. Germany – DDR-Flucht und Neuanfang“, die noch bis zum 7. Januar in der Erinnerungsstätte zu sehen ist. Weihnachten im Westen - das bedeutete zwar Feiern in Freiheit, aber für viele eben auch die Trennung von der Familie, wie Susanne Muhle vom Ausstellungsteam berichtet.

Es war der 25. September 1961, als Karl Roos, Albrechts Vater, einen Brief von der Ingenieurschule für Landtechnik „M.I.Kalinin“ erhielt. „Wir müssen uns heute in einer nicht gerade angenehmen Angelegenheit an Sie wenden“, stand da drin. Albrecht Roos hatte zehn Tage vorher die Grenze von Falkensee nach Spandau überquert.

Er sollte für die Ingenieursschule beim Bau der Mauer helfen. Als in einer Pause auch die Wachen beim Essen waren, nutzte er die Gelegenheit zur Flucht. Er sagte, er müsse noch einmal in den Wald, weil ihm schlecht sei. Der Zaun war zwar am oberen und unteren Ende mit Stacheldraht gesichert. Aber an einer Stelle führte ein Graben darunter durch. Roos verfing sich im Stacheldraht, krabbelte blutig und mit zerrissener Kleidung auf die andere Seite, in die Freiheit.

Dort lief er zwei westdeutschen Polizisten in die Arme. In einem Auto kam er dann in das Notaufnahmelager in Marienfelde.

„Wir wurden wunderbar betreut“, findet Roos im Rückblick. „Mir wurde sofort das Zimmer gezeigt.“ Dann kamen Mitarbeiter mit Handtüchern und Seife. „Die roch so gut“, erinnert sich Roos. „Für mich war das wie im Paradies.“ Paradiesisch blieb es natürlich nicht. Alle Flüchtlinge bekamen einen Laufzettel in die Hand gedrückt. Sie mussten zur Untersuchung, Essensmarken holen, Befragungen durchstehen. Die Geheimdienste aller drei Alliierten sowie der deutsche Geheimdienst hatten Fragen an die ehemaligen DDR-Bewohner. Die erste Person, die Roos anrief, war seine Tante in Frankfurt am Main. Er wusste, dass sie Geld hatte und er hatte lediglich seine zerrissenen Kleider dabei. In einem Kleiderlager einer Kirche deckte er sich zunächst notdürftig ein. Schließlich schickte seine Tante 50 Mark. Roos hoffte von Anfang an, dass er Weihnachten nicht in dem Lager verbringen muss. „Auf Dauer war das hier kein Leben“, sagt er. Es waren jede Menge Leute um einen herum. Gleich am ersten Tag sei ein Zimmernachbar aufgefallen, weil er klaute.

Aber lange sollte Roos ohnehin nicht in Marienfelde bleiben. Er hatte nicht nur seine Tante in Frankfurt, sondern auch eine Schwester im hessischen Offenbach. Die ließ ihn bei sich wohnen. Und dort verbrachte er auch sein erstes Weihnachtsfest im Westen.

Matthias Jekosch

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