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Von Kay Grimmer: Die Unsicherheit der Ärzte

Beim Kindermedizinerkongress protestieren Zwitter gegen Behandlungs- und Operationsmethoden

„Nein!“ steht groß auf dem Plakat, das am Eingang der Metropolis-Halle am Filmpark Babelsberg auf den Zaun gespießt wurde. Die Demonstranten protestieren nicht gegen Amusement im Filmpark. Ihre Ansprechpartner sind die 3000 Kinder- und Jugendmediziner, die sich noch bis Sonntag in Potsdams größter Veranstaltungshalle zum jährlichen Verbandskongress treffen. Sie wehren sich gegen „Genitalverstümmelung in Kinderkliniken“. So steht es auf ihren Transparenten und Flugblättern.

Die Initiative „Zwischengeschlecht“ ist ihre Basis, Daniela Truffer ihre Sprecherin. Sie ist genauso wie die anderen Demonstranten selbst betroffen von dem Phänomen, das als Hermaphrodit, Intersexuelle oder Zwitter bezeichnet wird: Menschen, die mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen zur Welt kommen. Eindeutige Statistiken darüber gibt es nicht. Selbst die Demonstranten geben zu, dass ihre Zahlen nicht hundertprozentig belegbar sind. Auf Flugblättern schreiben sie, jedes 2000. Kind sei betroffen. Im Gespräch sagt die Schweizerin Truffer, die für die Proteste extra nach Potsdam gereist ist, drei Prozent aller Kinder seien intersexuell. Meist würden die Operationen bereits im Babyalter vorgenommen. Daniela Truffer schildert die Abläufe: Mehrfache Operationen seien nötig, um Kindern eine eindeutige Geschlechtszugehörigkeit zu „basteln“, dazu kämen Hormontherapien. Die Folge seien „psychische Schäden, Störungen bei der sexuellen Empfindsamkeit, Schäden durch die Hormontherapie, Folgeerkrankungen“, zählt sie auf. „Die Betroffenen brauchen keine Operation, sie brauchen psychosoziale Betreuung“, ist ihre Forderung. „Die Operationen dürfen erst dann überhaupt in Betracht gezogen werden, wenn sich der Betroffene selbst dafür entscheidet.“

Das ist Weg, so sagt es Professor Gernot Sinnecker, der heute gegangen wird. Die Ärzte auf dem Medizinerkongress versuchen, auf die emotionalen Proteste sachlich zu reagieren. Zur Eröffnungspressekonferenz hat Tagungspräsident Professor Michael Radke, der Leiter der Kinder- und Jugendmedizin im Potsdamer Bergmann-Klinikum ist, hat Professorenkollege Sinnecker mitgebracht – einen Fachmann auf dem Gebiet der Intersexualität und Mitwirkender an einer Ethik-Richtlinie, die mittlerweile gelten soll, sagt Sinnecker. Er gesteht: „Wir haben als Ärzte einen Lernprozess durchgemacht.“ Vor 20, 25 Jahren sei das gängige Therapieverfahren gewesen, Kleinkinder und Babys mit uneindeutigen Geschlechtssmerkmalen schnellstmöglich zu operieren, so der Professor. Es ist genau der Zeitraum, in dem die Demonstranten geboren wurden. Der Grund für das damalige Handeln: „Das Wohl des Kindes“, sagt Sinnecker. Denn die Gefahr von Belastungen der Betroffenen wegen unklarer Geschlechtsdefinition wurde damals als schwerwiegender eingeschätzt als Operationen. „Heute“, sagt Sinnecker, „steht die Selbstbestimmung des Kindes an oberster Stelle.“ Man habe ein Ethik-Papier verabschiedet, gemeinsam mit Ärzten, Psychologen und Betroffenen. „Jede Operation, die vermeidbar ist, wird verschoben auf den Zeitpunkt, an dem Betroffene selbst entscheiden können.“ Lediglich medizinisch notwendige Eingriffe würden vorgenommen. Dafür würde verstärkt auf dem psychosozialen Gebiet gearbeitet – um Betroffene und Eltern zu stützen. „Denn es ist klar, dass Intersexualität beim eigenen Kind auch für Eltern ein Spannungsfeld ist.“ Sinnecker zeigt – für Halbgötter in Weiß nicht immer üblich – die Unsicherheit der Medizin auf: „Die Problematik ist, zu entscheiden, was das beste für die Betroffenen ist. Doch wie soll man das bei Kindern, meist Säuglingen, wirklich wissen, wie sie sich entwickeln?“ Es könne passieren, dass in 20 Jahren festgestellt wird, dass auch der heutige Weg nicht richtig ist, gibt Sinnecker auch zu.

Die Betroffenen vor der Metropolis- Halle wollen bis morgen weiterdemonstrieren. Heute soll ein Offener Brief verlesen werden, in dem sie nicht nur ein sofortiges Ende der ihrer Ansicht nach „fortdauernden Genitalverstümmelungen in Deutschland“ fordern. Sie wollen auch erreichen, dass Zwitter ein Existenzrecht haben, ohne sich für ein Geschlecht entscheiden zu müssen. Der heutige Protest kommt zu einem sensiblen Zeitpunkt: Zeitgleich gedenken die 3000 Kinder- und Jugendmediziner der jungen Opfer während des Nationalsozialismus. Als Ärzte vermeintlich kranke und abnormale Kinder für die Forschung missbrauchten oder im Euthanasieprogramm töten ließen.

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