zum Hauptinhalt

Von Katrin Zeug: Problemkinder im 30-Minuten-Takt Für 6200 Schüler gibt es einen Schulpsychologen

Ein Besuch in der Sprechstunde

Boris ist neun Jahre alt, wirkt aber viel älter. Kontrolliert sitzt er da, prüft die Umgebung während er redet. Er ist nicht schlecht in der Schule, seine Eltern sind weder „bildungsfern“ noch arm. Es scheint als hätte er einfach so vor zwei Wochen angefangen, seine Mitschüler zu beklauen. Geld, mp3-Player, Handys, alles. Auch dann noch, als er schon erwischt worden war. Warum er das tat, weiß er selbst nicht genau, aber er sagt, seine Eltern hätten ihm schon lange nicht mehr so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie jetzt.

Corinnas Haar hängt so tief ins Gesicht, dass es ihre Augen verdeckt. Die Stimme der 13-Jährigen ist leise und dünn, wenn sie erzählt, wie sie sich plötzlich in Klausuren nicht mehr konzentrieren kann und sie manchmal eine Angst überkommt, sie könne versagen, dass ihr ganz übel wird.

Schulpsychologische Sprechstunde in einer Gesamtschule in Schöneberg. Das Zimmer ist klein, ein Tisch, Stühle, sonst nichts. Der Schulpsychologe Klaus Seifried sitzt an dem weißen Tisch und empfängt. Seine grauen Haare passen zu seinem Alter, sein Oberhemd und die Stoffhose zu seiner Stellung und seine Bewegungen sind sparsam. Fast könnte man vergessen, dass er da ist, so dezent überlässt er den Raum denen, die zu ihm kommen. Kindern wie Boris und Corinna, ihren Eltern oder Lehrern, um Geschichten zuhören, die sonst nicht erzählt werden.

Die Schüler kommen im 30-Minuten-Takt. Kurze Momente, in denen der Psychologe einen Spalt finden muss, zwischen den Geflechten aus Beziehungen, Erwartungen, Enttäuschungen und Hoffnungen. Einmal im Monat kommt er ins Haus, insgesamt betreut er 13 Schulen.

Nach Angaben des Robert Koch Instituts entwickeln 22 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychische Probleme und brauchen psychologische Beratung. Mindestens fünf Prozent benötigen psychotherapeutische Behandlung. Seit 1957 gibt es dafür in Berlin Schulpsychologische Beratungszentren. In Sprechstunden und Beratungsgesprächen für Eltern und Schüler und Supervisionsgruppen für Lehrer, versuchen Schulpsychologen wie Klaus Seifried, Gewalt vorzubeugen, bei Krisen zu vermitteln, Lehrer gesund zu halten und Hochbegabte und Lernschwache zu unterstützen.

„Eine Schule ist ein Mikrokosmos“, sagt der Schulleiter von Corinna und Boris. „Es gibt nichts, was hier nicht früher oder später einmal vorkommt. Er erzählt von Jointstummeln auf den Toiletten, eingeritzten Handgelenken und Androhungen von Amokläufen. Er kennt Fälle von Magersucht und Mobbing, von Missbrauch und Erpressung. Schulpsychologen seien wichtig, sagt er, weil sie als Außenstehende ganz anders eingreifen könnten – und das werde immer wichtiger, auch wenn er eine Schule leitet, die wegen ihres guten Rufs bei jeder Anmeldung zwei Drittel der Kinder zurückweisen muss. „Die Macken zeigen sich je nach Einzugsgebiet unterschiedlich, aber Probleme gibt es überall“, sagt er.

Oft seien die „Macken“ ein Ruf nach Aufmerksamkeit, sagt Klaus Seifried. Viele Jugendliche fühlten sich überfordert und alleine gelassen. „Die Eltern-Kind-Rollen sind nicht mehr so ausgeprägt wie früher.“ Trennungen, neue Partner, Jobs: Eltern seien oft mit ihren eigenen Lebensentwürfen beschäftigt, Kinder bekämen die Rolle eines Partners, eines Freundes. Um an Grenzen zu stoßen, Reaktionen zu bekommen und sich dadurch selbst zu fühlen, müssten sie immer extremer handeln, sagt der Psychologe.

Klaus Seifried hat keine Zeit für große Analysen oder Therapien, in seinen Zuständigkeitsbereich fallen über 6000 Schüler. Sie kommen mit so unterschiedlichen Gefühlen wie Ängsten, Aggressionen oder Unterforderung. Klaus Seifried leistet „erste Hilfe“: Er sucht mit Schülern, Eltern und Lehrern nach Lösungen, schließt Verhaltensverträge und wenn es nötig ist, vermittelt an einen Psychotherapeuten der mehr Zeit hat. Er ist ein Mittler, die Zwischeninstanz die entscheidet ob ein guter Rat reicht oder eine Therapie nötig ist. „Viele Eltern sind von ihren Erziehungsaufgaben überfordert. Lehrerinnen und Lehrer werden zunehmend mit Sozialarbeit und Erziehungskonflikten konfrontiert. Hier kann ich als Schulpsychologe unterstützen und begleiten.“

Zum Feierabend, bestellt sich Klaus Seifried Milchkaffee und Sahnetorte in einer Bäckerei neben der Schule. Mit jedem Bissen scheint es, als komme er ein Stückchen aus den fremden Leben zurück in das seine, wo er eine Frau und drei Söhne hat, gerne tanzt, segelt und klettert. Aber er sagt, zwischen all den schlimmen Geschichten finde er auch viel Bestätigung. Wenn seine Einschätzungen zutreffen, ein bockiges Kind plötzlich zu sprechen beginnt, ein Hoffnungsloser zum ersten Mal lächelt oder sich Lehrer bei ihm bedanken, dann tankt er Energie für Fälle wie die von Corinna und Boris.

Katrin Zeug

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false