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Von Jana Haase: Treten und schießen

Sie führt Potsdams einzige Webwerkstatt – Johanna Elisabeth Nehm fand erst über Umwege zur Weberei

Wenn sie am Webstuhl sitzt, verschwindet die Welt um sie herum. „Dann gibt es nichts mehr“, sagt Johanna Elisabeth Nehm: „Alles, was passiert, ist uninteressant.“ Mit den Füßen tritt die 46-jährige in die Pedalen – 1400 Fäden werden dadurch gleichzeitig bewegt. Sie teilen sich in eine obere und eine untere Hälfte, dazwischen entsteht ein Fach. „Dann schieß ich“, erklärt Elisabeth Nehm und reißt an einer Leine, die vor ihrer Nase hängt. Ein Holzschiffchen rauscht von links nach rechts durch das Fach. Im Schiff liegt eine Garnrolle, die beim Hinüberschießen Faden abwickelt. Elisabeth Nehm zurrt ihn mit dem überdimensionalen Kamm fest an das bereits gewebte Tuch. Sie braucht für diese Handgriffe nicht mehr als ein paar Sekunden. Dann tritt sie erneut in die Pedale.

Im November hat sich die Potsdamerin als Weberin selbstständig gemacht – unterstützt durch das „Regionalbudget“, das sind EU-Mittel, die die Stadt an vorher arbeitslose Existenzgründer vergibt. Nach Auskunft der Handwerkskammer Potsdam ist sie damit die einzige Weberin in der Landeshauptstadt. In Potsdam, wo die Webkunst blühte und vor 250 Jahren in Babelsberg sogar ein ganzes Weberviertel gebaut wurde, war das Handwerk also praktisch ausgestorben. Dabei wuchsen zur Hochzeit der Weberei mehr als 3000 Maulbeerbäume auf den Babelsberger Plantagen: In den Bäumen lebten die Seidenraupen, das sind Schmetterlinge, aus deren Puppen man das begehrte Seidengarn gewinnt. Auch heute gibt es noch etliche Babelsberger, die das Weben zuhause pflegen, weiß Nehm.

Die Räume für ihre Werkstatt hat sie allerdings in Potsdam West gefunden: Fünf große Webstühle stehen dort auf 65 Quadratmetern in der Geschwister-Scholl-Straße 77, alles gebrauchte Modelle. Das Holz ist über die vielen Jahre bereits dunkel geworden. Auf jedem Webstuhl entsteht ein anderer Stoff – mal weiß mit zartrosa Streifen, mal ein knallrotes Wellenmuster, mal ist der Faden fein, mal gröber. Die Weberin wechselt bei der Arbeit jeweils zwischen den Stühlen. Mehrere Wochen dauert es so, ehe die bis zu 80 Meter langen Tuchrollen fertiggewebt sind, erklärt sie.

Dabei ist die schwierigste Arbeit bereits getan, wenn Nehm zum ersten Mal in die Pedale tritt. Denn vorher muss das Garn „aufgebäumt“ werden: Die 1400 einzelnen Fäden müssen auf die richtige Länge – zum Beispiel 25 Meter – gebracht und nebeneinander auf den „Kettbaum“ des Webstuhls gewickelt werden. Mit einer Helferin brauche sie dafür etwa 40 Stunden, berichtet Elisabeth Nehm. Auch das Muster muss sie bereits vor dem eigentlichen Weben überlegen: Denn es entscheidet darüber, wie die Holzpedalen eingerichtet und später getreten werden sollen. „Eine kleine Wissenschaft“, sagt Elisabeth Nehm.

Zum Weben hat die zweifache Mutter erst über Umwege gefunden. Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete sie als Krankenschwester unter anderem auf der Krebsstation – bis sie den Beruf 2006 aus gesundheitlichen Gründen endgültig aufgab. Bei der Neuorientierung erinnerte sie sich an ihren ersten Berufswunsch: Anfang der 1980er Jahre hatte Elisabeth Nehm vergeblich versucht, einen Ausbildungsplatz bei der Kirche zu bekommen: „Paramentik“, also die Herstellung von Stoffen für den Kirchengebrauch, wie zum Beispiel Altartücher, hatte sie damals besonders interessiert.

Dass die Weberei ihr Brotberuf werden sollte, war ihr klar, als sie 2003 zum ersten Mal die Handweberei Geltow, ein „Aktives Museum“, besuchte: „Ich habe die Tür da aufgemacht und wusste, da bin ich richtig“, erinnert sich Elisabeth Nehm. Sie besuchte Webkurse, kaufte ihren ersten Webstuhl, der im Wohnzimmer Platz finden musste. 2005 begann Nehm dann ihre Lehre in Geltow – zunächst noch neben ihrer Teilzeit-Arbeit im Krankenhaus. 2007 lernte sie aus, momentan macht sie die Meisterausbildung.

Zwischen 85 und 90 Euro kostet der Meter Stoff aus ihrer Werkstatt. Für den Verkauf arbeitet Nehm mit einer Schneiderin zusammen, die die Stoffe auf Wunsch verarbeitet, „individuell und qualitativ hochwertig“, sagt Nehm. Eine maßgeschneiderte Bluse aus handgewebtem Stoff koste um die 200 Euro. Leisten können sollen sich das „Menschen, die sich schmücken wollen“, sagt die Existenzgründerin und überlegt kurz: „Weben ist eigentlich eine Philosophie.“

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