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Von Andreas Voigt: Nach oben offen

Die Weddinger Anna-Lindh-Schule fördert hochbegabte Kinder nach einem einzigartigen Konzept

Nicht einmal eine Dreiviertelstunde bleibt Jacob noch, um den Mitschülern aus der 6 e sein Referat über das Thema Krankheiten vorzustellen. Den meisten Schülern würde die bloße Vorstellung, ein solch komplexes Thema in so kurzer Zeit anschaulich und systematisch vorzutragen, eher Schweißperlen auf die Stirn treiben als Vergnügen bereiten.

Bei Jacob scheint es genau umgekehrt zu sein. Der kleine Junge mit dem blauen Jeanshemd und dem violetten Schlips genießt die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler in vollen Zügen. Scheinbar mühelos doziert er über physische und psychische Krankheiten. Die Spanne seiner Ausführungen reicht von der Cholera bis zur Depression: Er klärt seine Mitschüler über Symptome und mögliche Therapien auf, schreibt komplizierte Begriffe an die Tafel und beantwortet nebenbei in aller Seelenruhe die Fragen seiner Mitschüler.

Jacob ist eines von insgesamt 81 hochbegabten Kindern an der Weddinger Anna-Lindh-Schule. Der Elfjährige mit den dunklen Haaren ragt selbst unter ihnen heraus. „Er kann sich Wissen, für das normal begabte Kinder Stunden brauchen, innerhalb von Minuten erschließen“, staunt selbst seine Klassenlehrerin Meike Diehm immer wieder. Anders als in anderen Berliner Grundschulen werden an der Anna-Lindh-Schule seit acht Jahren hochbegabte Kinder nach einem bestimmten Konzept gefördert.

In sogenannten „Expertenteams“ werden die besonders leistungsstarken Kinder mitunter „vom normalen Unterricht abgezogen und erhalten zwei Wochenstunden Zusatzunterricht, der ihren Begabungen und Interessen gerecht wird“, erläutert Meike Diehm. Auch sonst tut man an der Anna-Lindh-Schule viel, um den enormen Wissensdurst der kleinen Superhirne zu stillen. In den Hochbegabtenklassen gibt es weniger Übungsstunden, „der Lehrplan wird dafür oftmals von Fragen und Themen gesprengt, die nichts mit dem normalen Grundschulunterricht zu tun haben“, sagt die Lehrerin. So gehe es schon mal um philosophische Fragen zur Existenz, aber auch um Themen wie etwa Kontinentalverschiebungen oder ägyptische Hochkultur.

Aber nicht nur die intellektuelle Förderung steht im Vordergrund des Konzeptes, auch die soziale Integration der Hochbegabten spielt darin eine entscheidende Rolle. In den zurzeit neun Hochbegabtenklassen sitzen deshalb nicht nur Kinder mit einem Intelligenzquotienten von mindestens 130. „Vielmehr sind zwei Drittel der Schüler normal intelligente Kinder“, erklärt Diehm. Schließlich wolle man die Hochbegabten nicht zu gesellschaftlichen Außenseitern erziehen.

Längst hat sich die in der Berliner Schullandschaft einzigartige Hochbegabtenförderung an der Anna-Lindh-Schule weit über die Grenzen Weddings hinaus herumgesprochen. „Wir können uns vor Anfragen kaum noch retten“, freut sich Rektor Thomas Leeb. Häufig haben Eltern mit hochbegabten Kindern an anderen Schulen schlechte Erfahrungen gemacht. Sie klagen darüber, „dass man ihre Kinder gar nicht oder nur unzureichend gefördert hat“, berichtet der Schulleiter. Die Folge sei extreme Verschlossenheit, manche entwickelten sich sogar zurück und würden zu Außenseitern und Sonderlingen.

An der Lindh-Schule verfährt man dagegen nach dem Motto „Zeige, was du kannst“. „Lehrer müssen daher damit umgehen können, dass ihnen manche Schüler in bestimmen Sachgebieten überlegen sind“, sagt Diehm. Es komme vor, dass sie Fragen hochbegabter Schüler etwa zum Thema Atomphysik nicht beantworten könne. „Aber anstatt in solchen Fällen abzublocken, ermutigen wir die Schüler, sich mit dem Thema zu beschäftigen und es der Klasse zum Beispiel in einem Referat vorzustellen“, erklärt Diehm.

Alle 18 Hochbegabtenlehrer der Anna-Lindh-Schule setzen sich regelmäßig in Fortbildungen mit der Hochbegabtenförderung auseinander. „Zudem tauschen wir uns laufend aus und versuchen unser Konzept stets zu verbessern“, erläutert die Pägagogin.

„Ohne das Engagement der Lehrer würde unser Fördermodell längst nicht so zum Tragen kommen“, ist Schulleiter Leeb denn auch überzeugt. Denn der Senat billige nur 15 zusätzliche Lehrerstunden pro Woche für die Hochbegabtenförderung zu. „Das ist deutlich zu wenig“, klagt Leeb. Der Rektor vermisst überhaupt ein klares Bekenntnis zur Hochbegabtenförderung seitens der Politik. „Zwei Prozent der Bevölkerung sind hochbegabt, dieses Potenzial dürfen wir nicht länger links liegen lassen“, fordert der Schulleiter.

Immerhin für eines wird jetzt gesorgt: Das Hochbegabtenkonzept der Lindh- Schule soll von der Carl-Kraemer-Grundschule und der Heinrich-Seidel-Grundschule (beide Gesundbrunnen) ab nächstem Schuljahr weitestgehend übernommen werden. Die hochbegabten Kinder, die die Lindh-Schule aufgrund mangelnder Kapazitäten bisher alljährlich ablehnen muss, werden dann an diese Schulen weitergeleitet.

Leeb ist davon überzeugt, dass „deutlich weniger Kinder auf die grundständigen Gymnasien gingen, wenn man sie an den Grundschulen besser fördern würde“. Noch sei „der Leidensdruck der Eltern enorm groß“.

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