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Ines R. (vorne rechts) am vierten Prozesstag vor dem Potsdamer Landgericht.

© Marion Kaufmann

Vierter Prozesstag im Fall Oberlin: Im beständigen Ausnahmezustand

Am vierten Prozesstag im Fall Oberlin sagt der Ehemann der wegen Mordes angeklagten Pflegekraft Ines R. aus. Er war es, der nach der Tat die Polizei alarmierte.

Potsdam - Um 20.50 Uhr geht der Notruf bei der Polizei-Leitstelle ein. „Ja, wie soll ich das jetzt am besten erklären“, beginnt Thimo R. „Meine Frau ist völlig psychotisch, völlig durch den Wind“, sagt er. „Sie hat mir erzählt, dass sie ein paar Leuten auf der Arbeit die Kehle durchgeschnitten hat.“ 

Es ist der Abend des 28. April 2021. Der Polizist kann zuerst gar nicht glauben, was er da hört. „Dit scheint zu stimmen“, betont Thimo R. laut Gesprächsprotokoll, das am Donnerstag im Gerichtssaal verlesen wird. Er habe bei seiner Frau „auf Arbeit“ angerufen, „die haben mir das gerade bestätigt“, erklärt er. „Ich zittere am ganzen Körper.“ 

Ist Ines R. schuldunfähig? 

Am vierten Prozesstag vor dem Potsdamer Landgericht schildert Thimo R. noch einmal jenen Abend, an dem seine Frau zwei Stunden früher als geplant nach Hause kommt. Der 57-Jährige sagt aus vor Gericht, obwohl er das nicht müsste. Er könnte als Angehöriger von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Seine Frau Ines R. wird beschuldigt, während ihrer Spätschicht als Pflegekraft im zum diakonischen Oberlinverein gehörenden Thusnelda-von-Saldern-Haus vier Menschen mit schwersten Behinderungen im Alter zwischen 31 und 56 Jahren mit einem Messer ermordet und eine weitere Bewohnerin schwer verletzt zu haben. Er, Thimo R., war nach Stand der Ermittlungen die erste Person, die sie danach gesehen hat.  

Was hat sie nach ihrer Heimkehr erzählt? War es so klar, wie der Ehemann es der Polizei übermittelt? Oder hat tatsächlich erst sein zweiter Anruf zwei Minuten vorher bei ihrer Arbeitsstelle diese Klarheit, die Details erbracht? Es scheint nebensächlich. Aber es könnte wichtig sein, um den Zustand der Angeklagten zum Tatzeitpunkt besser einordnen zu kennen – und damit Einfluss auf die Strafe haben. Die Staatsanwaltschaft geht nach dem Gutachten einer Psychologin davon aus, dass die 52-Jährige die Tat im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen hat. Ihr Verteidiger, der Babelsberger Anwalt Henry Timm, hält seine Mandantin hingegen für gänzlich schuldunfähig. Nur im Rahmen einer psychiatrischen Befragung hat sie sich bisher zu den Vorwürfen geäußert.

Seine Frau sei "völlig von der Rolle" gewesen 

So sagt es auch Thimo R. vor Gericht. Ihm gegenüber habe sich seine Frau bislang nicht näher geäußert. Er sei nach seiner Schicht als Hausmeister schon zu Hause gewesen, als seine Frau in die Einfahrt gefahren sei, den Wagen aber nicht wie sonst in die Garage gefahren habe. Auf dem Weg zu ihrer Doppelhaushälfte sei sie ihm entgegen gekommen. Apathisch, verwirrt, geistesabwesend, „völlig von der Rolle“. In so einem Zustand habe er seine Frau noch nie gesehen, obwohl er sie oft psychisch angeschlagen erlebt habe. 

Bei seiner polizeilichen Vernehmung sagte er: „Das war nicht sie.“ Nicht die Ines, die er seit 35 Jahren kennt. „Sie hat mich ganz komisch angeguckt“, berichtet er im Prozess. Dann habe sie davon gefaselt, dass etwas Schlimmes passiert sei. Bei der Arbeit. Daraufhin habe er den gemeinsamen Sohn gebeten, mit der Mutter in die Küche zu gehen, sich zu kümmern, während er bei Oberlin anruft. 

Zuerst ruft er zwei Mal im Oberlinhaus an 

Um 20.43 Uhr, zu einer Zeit, als seine Frau eigentlich noch hätte im Dienst sein müssen, geht sein erster Anruf im Thusnelda-von-Saldern-Haus ein. Dreieinhalb Minuten telefoniert er laut Protokoll mit einer Mitarbeiterin, die ihm versichert, dass alles in Ordnung, nichts vorgefallen sei. Er legt auf und ruft um 20.48 Uhr gleich noch einmal an. Bittet die Mitarbeiterin, die nicht so gut Deutsch gesprochen habe, nachzusehen, in den Zimmern der Bewohner. Sie entdeckt „viel Blut“, einen Toten. Thimo R. fordert sie auf, den Notarzt und die Polizei zu rufen. Er werde sofort dasselbe tun.  

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Warum er die Polizei gerufen habe, will ein Schöffe wissen. „Weil man das so macht, wenn etwas passiert ist“, sagt Thimo R. An Kleidung oder Händen seiner Frau sei ihm kein Blut aufgefallen, sagt er zudem. Auf einem Foto aus dem Polizeigewahrsam, das am ersten Prozesstag gezeigt wurde, sind sie hingegen deutlich zu sehen: Blutanhaftungen an den Händen. 
Er stehe zu seiner Frau, liebe sie, sagt der Hausmeister. Besuche sie regelmäßig in der geschlossenen Psychiatrie, wo sie seit ihrer Verhaftung kurz nach der Tat untergebracht ist. So wie er auch früher immer zu ihr gehalten habe, wenn sie wieder in stationärer Behandlung gewesen sei.  

Es sind nicht die normalen Szenen einer langjährigen Ehe, die Thimo R. schildert. Es muss ein Leben im beständigen Ausnahmezustand gewesen sein, bedingt durch die psychische Erkrankung seiner Frau, durch immer neue Schicksalsschläge. 

Sie kennen sich seit den 80er-Jahren 

1986 lernen sie sich kennen, in einem Potsdamer Jugendklub. Tanzen, trinken, verlieben sich. Schon eine Woche später fährt er sie in die Berliner Charité, wo sie wegen eines Suizidversuchs stationär betreut werden soll. Die psychischen Probleme, die schon seit ihrer traumatischen Kindheit mit Scheidung der Eltern und einer dominanten, schlagenden Mutter bestehen, sind von Anfang an kein Geheimnis. Es habe auch nichts damit zu tun gehabt, dass sie sich mehrfach trennen, wieder zusammenkommen. „Wir waren jung“, sagt Thimo R., ein leicht stämmiger Mann mit Brille und Schnauzer im freundlichen Gesicht. Wie das eben so sei in dem Alter. 1989 flüchtet Thimo R. über Ungarn aus der DDR, landet in Nürnberg. Ines habe nichts davon gewusst.  

Kurz nach der Wende, sie seien zu der Zeit nicht zusammen, aber in Kontakt gewesen, sei sie plötzlich in Nürnberg bei ihm aufgetaucht. Er habe das nicht so gut gefunden, weil sie dafür kurz vor dem Abschluss ihre Pflegerinnenausbildung abgebrochen habe. Etwa ein halbes Jahr später findet Thimo R. einen Job in Potsdam, sie gehen gemeinsam zurück. Ines bekommt ein Kind von einem anderen, mit dem sie kurze Zeit zusammen war, als ihre Beziehung gerade den „Off“-Status hatte. 

Das sei für ihn kein Problem gewesen, sagt Thimo R. Er habe die Vaterschaft angenommen. Im Kindesalter bekommt der Junge eine Hirnhautentzündung, 40 Fieber, über mehrere Tage. Doch Ärzte stellen die falsche Diagnose. Der Sohn ist seither schwer behindert, wird selbst im Oberlinhaus betreut. Dann eine Abtreibung. „Das muss ich auf meine Kappe nehmen“, sagt er hörbar bewegt. Er habe ihr gesagt, dass sie das Kind nicht bekommen solle, das sei ihm im Moment zu viel. Dann wird Ines R. wieder schwanger, dieses Kind soll bleiben. 

Aber im Urlaub erleidet sie eine Fehlgeburt. Sie bekommen später einen gemeinsamen Sohn. Er erkrankt vor wenigen Jahren an einem Hirntumor, erholt sich aber. Ines R.s jüngere Halbschwester stirbt bei der Geburt ihres Kindes. Die ältere Halbschwester, die Ines R. erst im Erwachsenenalter kennenlernt, erkrankt an Krebs, sie pflegt sie bis zum Tod 2020. Dazu die ständige Überforderung bei der Arbeit. Von „teils grauenhaften Zuständen“, habe seine Frau gesprochen, so Thimo M. „Es wäre ihr Traumjob gewesen, wenn zwei, drei Leute mehr in den Schichten gewesen wären.“ Aber so habe sie „ihre Leutchen“, wie sie die Bewohner genannt habe, nicht so versorgen können, wie sie sich das gewünscht habe. Wenn wieder Kollegen kurzfristig ausgefallen seien, sei sie immer eingesprungen. 

Widersprüchliche Aussagen zu ihrem Zustand vor der Tat 

In den Wochen vor der Tat sei es ihr körperlich und mental schlechter gegangen, sagt Thimo R. Er hätte seiner Frau geraten, bei Oberlin auszusteigen. Das habe sie nicht gewollt. Dann hätten sie sich darüber unterhalten, dass sie sich wieder in stationäre Behandlung begeben solle. Am 29. April, dem Tag nach der Tat, hätten sie ihre Psychiaterin deswegen konsultieren wollen, sagt Thimo R. Aber einen festen Termin bei der Ärztin gab es nicht. 

Auch die Psychiaterin, bei der Ines R. seit 2016 in Behandlung war, sagt am Donnerstag aus. Sie bestätigt die lange Krankengeschichte der Angeklagten, eine Depression und eine Borderline-Persönlichkeitsstörung habe sie diagnostiziert. Ihr Medikamente verschrieben, die sie – in einem gesetzten Rahmen – auch selbständig hoch- oder runterdosiert habe. Aber sie bestätigt nicht, dass es Ines R. aus ihrer Wahrnehmung zuletzt auffällig schlechter gegangen sei. 14 Tage vor der Tat sei sie in der Praxis gewesen. Sie habe zwar wie schon öfter die Belastung bei der Arbeit angesprochen, aber nicht labiler oder gestresster gewirkt als sonst. Sie habe keine Erklärung für die „archaische Wut“ hinter dem Geschehen, so die Psychiaterin. 

Auch ihr Mann hat keine. Er habe seine Frau nie aggressiv erlebt, auch den Kindern gegenüber nicht. Er danke ihm, dass er so mutig gewesen sei, auszusagen, sagt Richter Theodor Horstkötter zum Schluss. Und: „Passen Sie auf sich auf.“ 

Der Prozess wird am kommenden Dienstag (23.11.) fortgesetzt. Dann sollen Angehörige der Opfer gehört werden. 

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