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Die Anteilnahme nach dem gewaltsamen Tod von vier behinderten Heimbewohnern in Babelsberg ist weiter groß. 

© Soeren Stache/dpa

Vier Heimbewohner in Potsdam getötet: "Wir hatten Vertrauen" 

Die Bewohner des Thusnelda-von-Saldern-Hauses und ihre Familien stehen nach der Gewalttat in Babelsberg unter Schock.

Potsdam - Das Datum weiß er ganz genau. „Am 1. September werden es 26 Jahre“, sagt Thomas R. (Name von der Redaktion geändert). Seit September 1995 lebe er im Babelsberger Oberlinhaus, inzwischen im 2010 auf dem Campus erbauten Thusnelda-von-Saldern-Haus an der Rudolf-Breitscheid-Straße. Einem Wohnverbund für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung und erworbene Hirnschädigung. Jenem Heim, das Mittwochabend zum Ort eines Verbrechens wurde, das ganz Potsdam noch lange beschäftigen und aufwühlen wird. Eine 51-jährige Pflegemitarbeiterin soll vier behinderte Menschen getötet, eine Bewohnerin schwer verletzt haben

Die Mutter wartete auf Nachricht von ihrem Sohn 

„Furchtbar“, sagt Thomas R. Der 54-Jährige sitzt in einem elektrischen Rollstuhl, den er selbst bewegen kann. Gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder, die ihn am Sonntag besuchen, ist er vor das Haus gekommen, betrachtet die Blumen, Kerzen, Karten, die an seine Mitbewohner erinnern. Der 54-Jährige wohnt eine Etage unter jener, auf der diese in ihren Einzelzimmern ums Leben gebracht wurden. Davon direkt mitbekommen habe er zum Glück nichts, sagt er.  

Dass im Saldern-Haus etwas Schreckliches passiert sein muss, erfuhr die Mutter zunächst aus den Nachrichten. Sie habe ihrem Sohn sofort eine Whatsapp geschrieben. „Er hat darauf erst nicht reagiert“, sagt sie am Sonntag. Erst nach einiger Zeit voll Sorge die Gewissheit: Ihr Sohn ist nicht unter den Opfern, er ist körperlich unverletzt. Doch die seelischen Verletzungen zu verarbeiten, das sei nun schwer. 

"Wir hatten Vertrauen" 

„Das ist wie eine Familie“, beschreibt der Bruder das Zusammenleben im Saldern-Haus mit maximal 65 Bewohnern und 80 Angestellten. Und: „Wir hatten Vertrauen.“ Eine Frau kommt vorbei, legt ihre Hand auf die Schulter von Thomas R., geht schnell weiter. Eine Mitarbeiterin auf dem Weg zum Dienst. Ein Passant kommt vorbei, grüßt den Rollstuhlfahrer mit Vornamen. „Er ist bekannt hier in Babelsberg“, sagt der Bruder, der in Brandenburg/Havel lebt. Die Bewohner des Oberlinhauses sind im Stadtteil gut integriert, oft sind sie mit ihren Betreuern im Babelsberger Park zu sehen.

Die Angehörigen haben viele Fragen 

Das Vertrauen in die Einrichtung sei immer noch da, sagt der Bruder. Eigentlich. Was wäre die Alternative? Aber viele Fragen hätten sie als Angehörige. Dass niemand bemerkt haben soll, dass die Mitarbeiterin, die auch Thomas R. als nett beschreibt, offenbar psychische Probleme habe, das wolle ihm nicht in den Kopf. 

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Er habe an den Fall des Piloten Andreas Lubitz denken müssen, der 2015 ein Flugzeug mit 150 Insassen bewusst zum Absturz brachte – und bei dem vorher eine mögliche Psychose diagnostiziert worden war. Auch dass die personelle Besetzung gerade abends und nachts immer ausreichend gewesen sein soll, könne er nicht ganz glauben, so der Bruder – auch wenn die Heimaufsicht bei einer Prüfung einen Tag vor der Tat keine Probleme feststellte.  

Corona habe die Lage verschärft, mache auch jetzt das Füreinanderdasein schwer. Seit Wochen hätten sie Thomas nicht besuchen können, sagen Mutter und Bruder. Am Wochenende nun – schon länger angekündigt – der erste Besuch, die erste gemeinsame Runde um den Block. Ein letzter Blick auf die Blumen, dann rollt Thomas R. begleitet von seiner Familie zurück Richtung Heim. 

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