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Tafel am Wohnort. David Rosenfeld (r.) mit Jann Jakobs am Haus der Sells.

© A. Klaer

Landeshauptstadt: Unerschrocken

Das Ehepaar Sell half zur NS-Zeit Juden bei der Flucht. Jetzt erinnert eine Gedenktafel an die beiden „Gerechten unter den Völkern“

Annemarie und Helmuth Sell waren Musterbeispiele für den „anderen Deutschen“ – und sind als solche von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem schon vor mehr als 30 Jahren mit dem Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet worden. Seit Freitag erinnert nun auch in Potsdam eine Gedenktafel vor dem ehemaligen Wohnhaus der Sells in der Karl-Marx-Straße 11 in Babelsberg an das Ehepaar, das während des NS-Regimes jüdische Mitbürger versteckte und ihnen teilweise zur Flucht verhalf. Einer der Geretteten, Ezra Ben Gershom, hatte die Hilfe der Sells 1967 in seinem Erinnerungsbuch „David“ beschrieben und das Ehepaar für die Ehrung vorgeschlagen. Die Sells hätten zu Zeiten des NS-Terrors großen Mut bewiesen, sagte Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) bei der Enthüllung der Gedenktafel.

Helmuth Sell, geboren am 14. Februar 1898, lernte seine spätere Frau Annemarie, geboren am 5. Januar 1896, nach dem Studium an der Berliner Universität kennen – er war Physik-Assistent, sie Mathematikerin. Helmuth Sell arbeitete später bei Siemens als Leiter des Labors für Messtechnik und Elektroakustik, seit 1932 lebte die Familie – ein Sohn, eine Tochter – in dem Haus in Babelsberg. Seine sichere Stellung gab Sell auf, als er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten von der Firmenleitung gezwungen werden sollte, in die NSDAP einzutreten. Er machte sich stattdessen mit einer Hörgerätefirma selbstständig.

Auch sonst zeigte sich das Ehepaar bewundernswert unerschrocken: Die Sells pflegten nicht nur engen Kontakt mit ihren jüdischen Freunden, sondern versteckten auch Juden zu Hause in Babelsberg, in einem abseits gelegenen Haus in Bergholz-Rehbrücke oder in Sells Betrieb und halfen ihnen teilweise mit gefälschten Papieren zur Ausreise. Der 25-jährige Ezra Ben Gershom war unter dem falschem Namen Wilhelm Schneider in Berlin geblieben und fürchtete dann doch um sein Leben. Er wandte sich an Sell, in dessen Betrieb er arbeitete. Von dem Chef bekam er umstandslos Hilfe, wie er später in seinem Buch berichtete: „Ich kann Sie in dieser Situation nicht allein lassen. Es ist meine Pflicht als Mensch, Ihnen zu helfen“, soll Sell gesagt haben.

Die Gedenktafel für die Sells ist die fünfte und vorerst letzte Tafel für „Gerechte unter den Völkern“ in Potsdam. Mit dem Titel ehrt die israelische Gedenkstätte Yad Vashem Menschen verschiedener Nationalitäten, die während des NS-Regimes ihr Leben aufs Spiel setzten, um Juden zu retten. Für die Auszeichnung muss es mindestens eine bezeugte Hilfsaktion gegeben haben, für die der Geehrte ein hohes Risiko eingegangen ist und keine Gegenleistung verlangte. Mehr als 25 271 Helfer, darunter 553 Deutsche, hat Yad Vashem nach eigenen Angaben bisher anerkannt. Potsdamer Geehrte sind auch Carola Müller, Maimi von Mirbach, Dorothea Schneider, Christa-Maria Schneider-Lyckhage und Günther Brandt.

Dass ihre bei Yad Vashem gelisteten Namen in die Landeshauptstadt zurückverfolgt werden konnten, ist auch der Arbeit von Stadthistorikern wie Edeltraud Volkmann-Block und Kurt Baller zu verdanken. Die Initiative für die Ehrung der Potsdamer „Gerechten“ vor Ort mit Gedenktafeln ging von David Rosenfeld aus – die Stadtverordneten hatten danach einen entsprechenden Beschluss gefasst.

Für Rosenfeld ist das Projekt mit den fünf angebrachten Tafeln noch nicht zu Ende. Er plane eine Fortsetzung mit einem Schülerprojekt zu den Potsdamer „Gerechten“, sagte er am Freitag. Dazu habe er bereits mit der Voltaire-Schule, die sich auch um die „Stolpersteine“ zur Erinnerung an Potsdamer Holocaust-Opfer kümmert, Kontakt aufgenommen.

Der heute 83-jährige Rosenfeld war 2003 aus der Ukraine nach Potsdam gekommen – und verdankt sein Leben selbst einem sogenannten „anderen Deutschen“: Als Zehnjähriger verlor er fast seine gesamte Familie im Lager und bei Gewaltmärschen, zu denen er 1941 mit Tausenden anderen jüdischen Einwohnern der rumänischen Landschaft Bessarabien – dem heutigen Moldawien – gezwungen wurde. Hilfe bekam er eines Nachts von einem „Menschen in deutscher Uniform“, der ihm die eitrig entzündeten Füße versorgte. Wer sein Wohltäter war, erfuhr er nie.

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