zum Hauptinhalt

Umgang mit DDR-Architektur in Potsdam: Verschwindende Brüche

Potsdam präsentiert sich als Modellfall einer politischen und bürgerschaftlichen Verhandlung über die Stellung der Vergangenheit in der Gegenwart – mit einer bemerkenswerten Besonderheit: Das architektonische DDR-Erbe ist in dieser Auseinandersetzung kaum repräsentiert.

Wer heute nach Potsdam kommt, wird im Stadtbild mit einer geschichtspolitischen Anstrengung sondergleichen konfrontiert: dem Wiederaufbau eines vor 66 Jahren zerstörten und vor über 50 Jahren abgetragenen Stadtschlosses, dessen Grundriss anschließend durch Neubauten und eine neue Verkehrsführung Potsdam vollkommen überbaut worden ist. Vor unseren Augen vollzieht sich ein unglaublicher Vorgang der Wiederbelebung einer Vergangenheit, die nur noch als überlieferte Vorstellung existierte, aber praktisch keine authentischen Reste und Spuren mehr in situ aufwies, mehr noch: Die allein noch vorhandenen originalen Baufundamente wurden im Zuge des Wiederaufbaus nach sorgfältiger Analyse beseitigt, das Gelände für den Neu-Altbau tiefenenttrümmert. Wer vor zehn Jahren vom Bahnhof über die Lange Brücke ging, hätte nicht glauben können, dass eines nicht sehr fernen Tages mitten auf der bisherigen Magistrale ein Hohenzollernschloss wieder erstehen würde, das den Weg in die Stadt wie ein Flaschenkorken absperren würde. Und eben dies geschieht in diesen Monaten: Die auf diesen Pfropfen zuführende Lange Brücke ist durch einen wieder etwas nach Norden versetzten Neubau für den Straßenbahn- und Busverkehr ergänzt worden und weist in der neuen Straßenführung nicht mehr zentral auf das Schlossgelände, sondern stattdessen auf sein sozialistisches Gegenstück, das ehemalige Interhotel, die stolze Höhendominante der sozialistischen Bezirksstadt Potsdam. Die hat nun vorerst Vorplatz und Freitreppe verloren, und muss nicht nur zugestehen, dass der Straßenverkehr jetzt unmittelbar dort entlangführt, wo bis vor kurzem der repräsentative Hoteleingang war, sondern für die Zukunft auch um ihre Fortexistenz bangen: Das Hotel „Mercure“ hat eine Bestandsgarantie nur bis Ende 2012. Und in diesen Wochen nimmt die Verschalung des Schlossdachs, für die Hasso Plattner abermals eine Spende in Millionenhöhe getätigt hat, weitere Gestalt an und begräbt damit endgültig die Vergangenheit des sozialistischen Stadtzentrums unter der zukünftigen Vorvergangenheit des preußischen Potsdams.

Nun: Potsdam ist nicht Dresden und der unerhörte Vorgang nicht ohne kritisches Echo. Statt einer gemeinschaftlichen Anstrengung einer Bürgerschaft, ihr im Zweiten Weltkrieg verlorenes Gesicht zu ersetzen, erlebt Potsdam eine publizistisch wie städtebaulich ausgetragene Auseinandersetzung um die zukünftige Stadtsilhouette, in der Schlossbefürworter gegen Schlossgegner streiten – gegen die „Fördergesellschaft für den Wiederaufbau der Garnisonkirche Potsdam e.V.“ steht eine Initiative „Nicht mit uns“, die strikt gegen den Wiederaufbau ist, und gegen beide eine mittlerweile in der Öffentlichkeit marginalisierte „Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiel“, die den Neubau der Garnisonkirche ganz dezidiert als Renaissance des Geistes von Potsdam verstanden wissen will. Also: Potsdam präsentiert sich als Modellfall einer politischen und bürgerschaftlichen Verhandlung über die Stellung der Vergangenheit in der Gegenwart – mit einer bemerkenswerten Besonderheit: Das architektonische DDR-Erbe ist in dieser Auseinandersetzung kaum repräsentiert.

Warum das so ist, soll im folgenden erörtert werden.

Potsdam als städtebauliche Projektionsfläche unterschiedlicher Stadterzählungen

Zunächst hat Potsdam anders als etwa Dresden durch die Jahrhunderte eine Projektionsfläche sehr unterschiedlicher und teils auch gegenläufiger Stadterzählungen gebildet:

Potsdam – die Stadt des Militarismus, in der Staat und Militär mehr galten als Zivilität und Bürgertugend;

Potsdam – die Stadt der kulturellen Vielfalt, in der sich italienische Renaissance, französisches Rokoko und holländischer Einschlag zu einem besonderen Potsdamer Geist der Toleranz ergänzt haben;

Potsdam – die Stadt des „preußischen Stils“, „eine Stadt der Selbstzucht und der Lebensverliebtheit, vornehm und einfach, adelig und bürgerlich“ (Hans-Joachim Schoeps);

Potsdam – die Welt der Potsdam-Deutschen, die zusammen mit den Moskau-Deutschen die erste deutsche Demokratie der Weimar-Deutschen in die Zange nahmen und vereint erstickten (Arnold Brecht);

Potsdam – die Stadt der „nationalen Revolution“ von 1933, in der der Marschall und der Gefreite sich die Hände reichten und die alten Eliten das Bündnis mit den neuen schlossen;

Potsdam – die Trümmerstadt, in der die Weltgeschichte zum Weltgericht wurde und Deutschland die Quittung für den zwölfjährigen Machtrausch der NS-Bewegung ausgestellt bekam;

Potsdam – die sozialistische Stadt des „roten Preußen“, in der der braune Ungeist samt seinen feudal-militaristischen Ursachen bis auf den letzten Ziegelstein ausgetrieben wurde;

Potsdam nach 1989 – die Stadt des Brückenbaus, in der sich die Bewahrung des Alten und die Schaffung des Neuen harmonisch zusammenfinden.

Zusammengefasst: Potsdam hatte nie eine allgemein akzeptierte eindeutige Identität, sondern war seit Jahrhunderten der städtebauliche Spiegel unterschiedlicher Stadterzählungen. Gefördert noch durch den enormen Bevölkerungsaustausch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und beeinflusst auch durch die kulturelle Überprägung durch den nahen Nachbarn Berlin, hat sich somit nie ein unumstrittenes Potsdam-Bild ergeben, sondern eher ein patchwork teils konfligierender, teils auch nur diffuser Potsdam-Bilder.

Die Ergänzung von Alt und Neu als Paradigma der SED-Baupolitik in Potsdam

Die Marginalisierung des DDR-Erbes in der heutigen Potsdam-Debatte kann zweitens auch als Reaktion auf die Härte verstanden werden, mit der während der DDR-Zeit in das Weichbild der Stadt eingegriffen worden war. Das Bemühen des SED-Regimes, die Stadt des Geistes von Potsdam im Geist des Fortschritts umzuformen, stellte in der Tat einen konzentrierten Versuch dar, der Stadt ein einheitliches Gesicht zu geben. Mit welcher Suggestivkraft diese Neugestaltung einherging, mag ein kleines Detail illustrieren: die Rodung der alten Bittschriftenlinde im Januar 1949, in der bis zu Friedrichs Tod 1786 Bürger ihre Suppliken zu stecken pflegten:

„Sie ist nicht mehr“, berichtete die Märkische Volksstimme in ihrer Ausgabe vom 10. Januar 1949. „Das Licht des neuen Tages stieg eben über der Stadt empor. An dem ärmlichen Stummel der morschen ,Bittschriftenlinde‘ arbeiteten mit Feuereifer ein paar kräftige Männer und Frauen. Spaten schürften, kurz klangen Beilhiebe auf – und dann fraß sich eine Säge in den hölzernen Stumpf jenes unrühmlichen Zeugen einer tränenreichen Epoche unserer Geschichte. Kräftige Arbeiterfäuste packten zu – mit kurzem Klagen zerbarsten die Überreste der ,Bittschriftenlinde‘. Es war genau neun Uhr. Wenig später flackerte ein Schneidbrenner auf. Auch das verbogene und verbeulte schmiedeeiserne Gitter fiel. ,Stahl für Hennigsdorf', sagte einer. Ein Auto kam vorüber. Der Fahrer riß die Tür auf: ,Gott sei Dank, dass der olle Stummel endlich weg ist - das wurde aber auch Zeit.‘ ... Und die Sonne lachte über einer Stadt, deren fortschrittlichste Bewohner aus eigener Initiative ... den ersten Schritt auf einem neuen Weg in Potsdam getan haben. Der 9. Januar bedeutet für Potsdam eine Wende, ein neuer Geist zieht in die Landeshauptstadt ein.“

In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde Potsdam zu einer sozialistischen Bezirksstadt umgebaut, die keineswegs alle erhaltenen Bauten aus der friderizianischen Zeit abräumte, aber ihnen doch keine Geltungsautonomie zugestand, wie eine Stadtbeschreibung von 1963 aus der Feder von Wilhelm Kunze verdeutlicht: „Potsdam ist in diesen Jahren ein einziger Bauplatz, wie es 1945 ein einziger Trümmerplatz war. Das Erbe von ‚Preußens Gloria‘, Trümmer, Schutt, Ruinen, ist inzwischen mit der größten Einsatzfreudigkeit und Opferbereitschaft Zehntausender Einwohner weggeräumt worden. Auch die Ruine des ehemaligen Stadtschlosses, das wie viele andere wertvolle Kulturdenkmäler und historische Bauten von den Bomben zertrümmert worden war, mußte abgetragen werden, weil der Grad ihrer Zerstörung keine andere Wahl ließ. Soweit es möglich ist, wird die historische Substanz erhalten, restauriert und in das neue Zentrum der Stadt einbezogen. Sein Gepräge erhält es jedoch durch Neubauten, die ganz vom Geist unseres sozialistischen Zeitalters bestimmt werden, wobei sich das Nebeneinander von Altem und Neuem harmonisch ergänzen wird und Potsdam dadurch in baulicher Hinsicht seinen ganz speziellen, historisch bedingten Charakter nicht verliert.“ Harmonische Synthese statt restlosen Abrisses – unter diesen Auspizien hätte selbst die 1968 abgerissene und in der heutigen Erneuerungsdebatte so prominente Potsdamer Garnisonkirche überleben können, und tatsächlich war ihr Schicksal nach 1945 keineswegs so eindeutig besiegelt, wie oft behauptet wird. Vielmehr waren die DDR-Behörden zunächst überaus uneinheitlich mit der ausgebrannten Turmruine umgegangen. Zwei Jahrzehnte lang, bis Ende 1966, waren an ihr laufende Sicherungs- und Instandsetzungsarbeiten durchgeführt worden, die zum Teil erhebliche Kosten verursacht hatten, und gerade erst mit dem Einbau von Stahlbetondecken in den vier Turmebenen begonnen worden.

Dass die Stadtverantwortlichen sich nur wenige Jahre entsprechend dem Willen der SED-Bezirksleitung anders entschieden, ging nicht alleine oder auch nur primär auf eine angebliche Willkürentscheidung von Ulbricht persönlich zurück, die vom pathologischen Preußenhass des Parteichefs zeugte, sondern ergab sich vor allem aus den Ordnungskriterien einer sozialistischen Denkwelt, in der den Zeugnissen der Vergangenheit kein eigenständiger Rang mehr zukam, sondern in das Paradigma der harmonischen Ergänzung des Neuen durch das Alte passen musste. Dieses Paradigma erlaubte immer die bauliche Spolienverwendung, wie wir sie am klarsten in der Übernahme des Schlossportals IV in das Staatsratsgebäude in Berlin-Mitte erkennen können, aber auch an den beziehungslos herumstehenden Obelisken und Kolonnaden in der Leipziger Straße in Berlin, aber auch an den erhaltenen Säulen der Schlossfreiheit hinter dem Potsdamer Interhotel oder eben an der Garnisonkirche.

Das Paradigma der harmonischen Ergänzung machte die Entscheidung zwischen Abriss und Neubau, die uns heute so schwerwiegend erscheint, für die Baukultur des SED-Staates zu einer Nebensache mit oft fast zufälligem Ausgang: Statt des Berliner Stadtschlosses hätte genauso der Abriss des Berliner Doms die notwendige Freiheit für einen zentralen Aufmarschplatz bieten können, und der bilderstürmerische Furor gegen die Hohenzollernbauten sparte in Berlin ausgerechnet die Zwingburg des Militarismus in Gestalt des Zeughauses aus und in Potsdam ausgerechnet die sakrale Pickelhaube in Gestalt von Schinkels Nikolaikirche. Dort aber, wo das Alte dem Neuen auch nur in der geringsten Anmutung entgegenzustehen schien, hatte es zu weichen. Die Garnisonkirche musste am Ende nicht zuletzt dem Argument weichen, dass durch ein Rechenzentrum an gleicher Stelle die „Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts“ und „Voraussetzung für die Anwendung der elektronischen Datenverarbeitung“ sichtbar gemacht werden könnte, wie es in der zeitgenössischen Literatur hieß.

Dass der Abriss gegen erhebliche Widerstände in der Bevölkerung und bis in die bezirkliche SED-Führung durchgesetzt werden konnte, verdankte sich einem sozialistischen Zeitstil, dessen Geltungskraft sich auch in der DDR auf die Zeit zwischen 1955 und 1970 beschränkte, als das nach 1945 zunächst geltende Leitbild der „schönen deutschen Stadt“ durch das Städtebauziel der funktionalen sozialistischen Stadt abgelöst worden war. „Machen Sie das Zentrum hell und licht, damit nachfolgende Generationen sagen können: sie haben gut gebaut“, forderte Ulbricht 1966 im Einklang mit den geltenden Grundsätzen der herrschenden Städtebaupolitik von den Stadtplanern der DDR und enthüllte hierdurch auch die radikale Zukunftsorientierung einer Denkwelt, die das historisch gewachsene Ensemble einer Stadt nicht als gültiges Vermächtnis, sondern als bloße Voraussetzung des sozialistischen Städtebaus ansah. Unter diesen Umständen nur konnte der geringfügige Wärmeverlust in einer geplanten Heiztrasse zu einem Argument werden, das gleichrangig neben kunst- und stadthistorischen Gesichtspunkten rangierte und sie im Konfliktfall sogar überstimmte – wobei in der Denkordnung einer sozialistischen Befreiung von der Vergangenheit die Garnisonkirche aus ästhetischen wie aus ideologischen Gründen zugleich als ein Schandfleck erscheinen konnte: „Schöner denn je wird Potsdam wieder aufgebaut. ... Gespenstisch, aber mahnend zugleich erhebt sich, neben dem Neuen, noch gleichermaßen als Zeuge der finsteren Vergangenheit, die Ruine jener Stätte, in der 1933 die Hitlerfaschisten in den Sattel gehoben wurden.“ Entsprechend setzte die DDR an die Stelle eines barocken Kirchturms einen Plattenbau mit umlaufendem Mosaikfries, der das Ausgreifen der siegreich voranschreitenden Menschheit in den Weltenraum versinnbildlichte und den Triumph der radikalen Moderne in der Formel „E = mc2“ feierte.

„Regeneration“ als Leitcode der städtebaulichen Umgestaltung nach 1989

Ein dritter Grund für das Verschwinden der DDR-Bauten aus dem Gedächtnis unserer Zeit ergibt sich aus unserer radikal veränderten Haltung gegenüber der Vergangenheit. Unser Geschichtsdenken hat die ruhmorientierte Erinnerung durch die leidensbetonte Erinnerung ersetzt, und diese Durchsetzung der Opferperspektive schlägt bis auf das Bild der Stadt selbst durch. Auch sie steht unserem Denken nach 1989 nicht als stolze Vaterstadt, als der Zeit oder den Feinden trutzende Civitas vor Augen, sondern als wehrloses und geschundenes Gebilde, das behutsamen Umgang benötige und infolge von Unachtsamkeit und Ignoranz mit dem Tod bedroht sei. Jüngere Stadtgeschichten zeichnen die Stadt und ihre Bauwerke bevorzugt in Metaphern, die um Schädigung, Krankheit und Ohnmacht kreisen - eben als Opfer. In dieser Perspektive erscheint „Die Stadt als barockes Gesamtkunstwerk - entstellt, doch heilbar“ oder als Trägerin tief geschlagener „Wunden“, von verübter „Kulturbarbarei“, die es wiedergutzumachen gelte.

Mit der Opferorientierung hängt zweitens zusammen, dass unsere Erinnerung nach 1989 nicht mehr Vergangenheitsstolz vermittelt, sondern weit mehr Vergangenheitskritik. Auch Potsdam steht mit seinen Gedenkstätten, der Leistikowstraße, der Lindenstraße, dem Lepsius-Haus für eine Erinnerung, die nachdrücklicher auf Distanz, auf Trauer, auf Lernbereitschaft und Wiedergutmachung zielt als auf Stolz und Identifikation. Unsere Erinnerung ist drittens paradox, sie verschmilzt auf eigentümliche Weise Abscheu und Hingezogenheit gegenüber der Vergangenheit. Längst ist die Sehnsucht nach der besseren Zukunft abgelöst durch die Sehnsucht nach der greifbaren Vergangenheit, und das Pathos des Fortschritts hat sich verwandelt in die Aura des historischen Relikts. Das Verlangen nach Authentizität füllt Flohmärkte und Geschichtsmuseen, wie Hermann Lübbe bemerkte, und stellt ganze Städte und Landschaften unabhängig von ihrem ästhetischen Rang unter Denkmalschutz. Wer heute mit Friedrich Nietzsche für das Vergessen plädiert, mit Ernst Nolte über das Nicht-Vergehen der Vergangenheit klagt oder im Namen der Zukunft für die Abrisssanierung votiert, steht schnell außerhalb unserer klar gezogenen Duldungsgrenzen. Die Moderne unserer Stadtzentren sucht, wo immer möglich, nach den vertrauten Zügen einer notfalls um fast jeden Preis wiederzubelebenden Vergangenheit – gleichviel ob in Gestalt von Bürgerhäusern wie am Römerberg in Frankfurt oder von Schlosssilhouetten wie in Braunschweig, Berlin oder eben Potsdam.

Der Sehnsucht nach unmittelbarer Begegnung mit der Vergangenheit kommt ein erweiterter Authentizitätsbegriff entgegen, der im Einklang mit der geltenden Charta des Denkmalschutzes Form und Material sowie Substanz gleichberechtigt neben Form und Gestaltung, Lage und Tradition als Quelle von Authentizität anerkennt. Die wichtigste Rolle übernehmen dabei authentische Relikte, die Reliquiencharakter annehmen, weil sie gleichsam die Aura des alten Gebäudes auf das neue übertragen. Für die Garnisonkirche stellt dies ein schlichter Altartisch dar, der um 1800 in seinen ursprünglichen Abmaßen erneuert worden war und – längst ausgemustert – nach dem Luftangriff vom April 1945 aus der Taufkapelle gerettet werden konnte. Diese Authentifizierungsstrategien erlauben im Selbstverständnis der Wiederaufbauanhänger, auch einen völligen Neubau anzuerkennen, soweit er in Geist und äußerer Gestaltung dem Original entspricht. Diese Sehnsucht nach erlebbarer Authentizität ließ in Potsdam Hasso Plattner zum Mäzen werden, der seine Millionenspenden erst für die originale Rekonstruktion der Sandsteinfassaden und jetzt auch des Kupferdaches ebenso bescheiden wie eindrucksvoll begründete: Er wolle mit dem Geld, das die Rekonstruktion der Knobelsdorffschen Fassade ermögliche, einen kleinen Beitrag zu Potsdams „Regeneration“ liefern. Regeneration ist ihm im Fall des Potsdamer Stadtbildes gleichbedeutend mit der Rückkehr zum Früheren, und das kommt uns selbstverständlich vor, obwohl Wiederbelebung ja umgangssprachlich zumeist mit Umbau oder Erhalt einhergeht, aber nicht mit Rückbesinnung.

Opferdiskurs, Authentizitätsaura und Regenerationsparadigma bilden den dritten und wohl entscheidenden Grund, warum die DDR-Bauten und die DDR-Kunst in den Potsdamer Rekonstruktionsdebatten bislang so gut wie keine Rolle spielen: Sie werden nicht als Teil des historischen Erbes anerkannt, sondern umgekehrt als unheilvoller Versuch der Enterbung verstanden. Sie genießen keinen Opferschutz, weil sie gleichsam als steinerne Tatwerkzeuge identifiziert werden und ihr Verschwinden als Wiedergutmachung erscheint. Diese Wiedergutmachung hat freilich ihren reinigenden, befreienden Grundzug verloren, wie ihn etwa der Abriss der Berliner Mauer ab Dezember 1989 trug und vielleicht auch noch die Abtragung des Palastes der Republik. Sie hat in der Vorstellung unserer Zeit vielmehr heilenden, regenerierenden Charakter gewonnen: Hinter der verstellenden Hässlichkeit der DDR-Bauten kommt im Denkhorizont unserer Zeit mit dem Abriss die Schönheit oder zumindest die Authentizität der Vergangenheit wieder zum Vorschein. Dies festzustellen, heißt nicht, es zu bedauern. Auch der beobachtende Historiker ist Kind seiner Zeit und ihrer Wertvorstellungen – aber er muss von Berufs wegen mit der Vergänglichkeit dieser Werthorizonte kalkulieren, die sich nur allzu rasch wieder von der heute vorherrschenden „Veraltertümelung“ unserer Städte abkehren könnte.

Das sprachlose Verschwinden der DDR-Architektur

Auch in Potsdam triumphiert ein städtebauliches Heilungskonzept, das mit den DDR-Relikten die Brüche der Potsdamer Baugeschichte zum Verschwinden zu bringen sich anschickt. Ungeachtet erster Proteste gegen den Abriss des Hauses des Reisens oder zur Zukunft des Terrassenrestaurants Minsk am Brauhausberg wird diese Abwertung des städtebaulichen und architektonischen DDR-Erbes weithin immer noch nicht offen und diskursiv erörtert, sondern vollzieht sich gleichsam vorsprachlich und hinter dem Rücken der Akteure. Sie fußt auf dem Paradigma der heilenden Regeneration, und sie argumentiert vor allem mit visuellen Zeichen.

So markierten Blumenrabatten bis zum Beginn der archäologischen Ausgrabung in Potsdams Stadtmitte jahrelang Lage und Größe des verlorenen Schlosses, um die verlorene Vergangenheit als nur verborgene Vergangenheit zu markieren. Diese Lesart einer rettbaren Vergangenheit wurde eindrucksvoll unterstützt von dem mit Sponsorengeldern wiedererrichteten Fortunaportal, das als Solitär den Alten Markt ebenso stadtwirksam beherrschte wie Wilhelm von Boddiens Schlosssilhouette den leeren Schlossplatz in Berlin.

Die nicht zusammen findenden Farblinien des Pflanzenschmucks, der den Schlossgrundriss andeutete, aber auch das Fortuna-Portal und jetzt von Tag zu Tag machtvoller der raumgreifende Baukörper des Stadtschlosses weisen in ihrer bloßen Visualität die noch stehen gebliebenen Bauwerke aus der SED-Zeit als Störfaktoren ohne weiteres Existenzrecht aus. Das Portal steht in hilfloser Nachbarschaft zu einem unansehnlich gewordenen Nachkriegsbau, mit dem einst der Gestaltungsanspruch des Sozialismus über das Vergangene triumphiert hatte und der heute – noch – eine Fachhochschule beherbergt. Dessen bröckelnder Putz unterstreicht so eindrucksvoll wie wortlos, dass der einstige Vorzeigebau der sozialistischen Stadtplanung sich längst in einen steinernen Abrissappell verwandelt hat.

Dort, wo die DDR-Überformungen verschwinden, kommt zugleich die Vergangenheit in ihrer Authentizität wieder zu unmittelbarer sinnlicher Geltung. Das zeigt sich im kleinen, wie in der wieder erlebbaren Giebelkontur an der Schlossstraße ebenso wie im Großen, wenn in Potsdam die Dimensionen des wieder auferstehenden Schlosses wieder erlebbar werden und das nur wenige Jahre vorher nachgebildete Fortunaportal wie ein historischer Überrest wirkt, der legitimerweise die Rolle der auratischen Übertragung übernehmen kann. Tatsächlich wird das neue Schloss mit einer Behutsamkeit um das Fortunaportal herumgebaut, wie sie üblicherweise nur historischen Relikten zukommt.

Dort, wo DDR-Bauten diese diskursive Marginalisierung überstehen, tun sie es in der Regel mit Hilfe einer Mimikry, die die Baukörper im Stile einer europäischen Baumoderne rekonstruiert und sie zugleich ihrer DDR-Bezüge entkleidet. Dies gilt für namentlich für die nach 1990 sanierten Hauszeilen in der Schlossstraße oder für den im Umbau befindlichen Baukörper der Stadt- und Landesbibliothek, aber auch die Häuser der in den fünfziger Jahren wiederaufgebauten Wilhelm-Staab-Straße, dieser „ersten Barockstraße der DDR“ verdanken ihre Unantastbarkeit in erster Linie dem Umstand, dass ihr historischer Anmutungscharakter heute als barockes Original missverstanden wird.

Fazit:

Trotz einer politisch stark fragmentierten Bürgerschaft mit einem hohen Anteil an Linkspartei-Wählern und einer rot-roten Landesregierung verläuft die Umgestaltung Potsdams bislang in erstaunlicher Weise ohne deutlichen Bezug auf die Bauten der DDR-Zeit. Die kulturelle Deutungskraft eines opferorientierten Regenerationsparadigmas hat dafür gesorgt, dass das städtebaulich zunächst utopische Projekt einer Schlossrenaissance Wirklichkeit werden konnte und zugleich die Bauten der SED-Zeit aus der schützenswerten Vergangenheit herausfielen. Ganz im Gegenteil als bloße Hindernisse auf der Freilegung einer verborgenen Vergangenheit verstanden, erleiden sie das Schicksal einer visuellen Ausgrenzung, die ihr Verschwinden als Heilung zu verstehen erlaubt, ohne dass dies bislang überhaupt Gegenstand einer öffentlichen Debatte geworden ist.

Prof. Dr. Martin Sabrow ist

seit Dezember 2004 Direktor des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung.

Von 2004 bis 2009 war er

Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Potsdam, seit 2009 lehrt als Professor im gleichen Fach an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Martin Sabrow

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false