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Der Hospiz- und Beratungsdienst der Hoffbauer-Stiftung hat eine Beratung für Trauernde eingerichtet.

© Ottmar Winter

Trauerbegleitung in Potsdam: „Ich fühlte mich wie ein Ausgestoßener“

Als seine 45-jährige Frau unerwartet an Krebs starb, stürzte ein Potsdamer Familienvater in eine tiefe Krise. Trauerbegleiterinnen der Hoffbauer-Stiftung halfen ihm zurück ins Leben.

Von Carsten Holm

Potsdam - Es ist eine anrührende und sehr traurige Liebesgeschichte, die der Bauingenieur Bernd Müller* erzählt. Er ist im Oktober 2012 wieder Single, loggt sich bei der Online-Partnervermittlung Parship ein und bekommt schnell eine Antwort. Nicole*, wie er 41 Jahre alt, Umwelt- und Qualitätsmanagerin in Berlin, meldet sich. Sie ist geschieden und hat eine sechsjährige Tochter.

Schnell geht es voran: Erstes Treffen Ende Oktober beim Besuch der „Friederisiko“-Ausstellung über Preußenkönig Friedrich II. im Neuen Palais, dann das zweite im Babelsberger Thalia-Kino, es läuft die Komödie „Sushi in Suhl“. Er, der Ossi, und sie, die West-Berlinerin, amüsieren sich prächtig. „Schon an diesem Abend war mir klar, in welche Richtung es geht“, sagt Müller, „es war das, was ich immer gesucht hatte.“

Es geht beiden so. Nach ein paar Monaten schon zieht Nicole mit ihrer Tochter in sein Haus in Bornstedt. Eine „Seelenverwandtschaft“ hätten sie gehabt, sagt er. 2015 kommt ihre Tochter zur Welt: „Ein absolutes Wunschkind.“

Ärzte diagnostizieren Magenkrebs

Dann passiert etwas, das das Glück der beiden in kurzer Zeit zerstört. Im August 2016 diagnostizieren Ärzte bei seiner Lebensgefährtin Magenkrebs. Nach sechs Chemotherapien bricht ihr Immunsystem zusammen, nach einer Lungenentzündung wird sie ins künstliche Koma versetzt und in die Berliner Charité verlegt. Erst dort, sagt Müller, wird festgestellt, dass sie schon seit drei Tagen hirntot ist. Seit der Aufnahme ins Krankenhaus ist eine Woche vergangen, als Bernd Müller am folgenden Sonntag gegen 19 Uhr seine große Liebe ein letztes Mal streichelt. Er ist dabei, als die lebenserhaltenden Geräte ein paar Minuten später abgeschaltet werden.

Der Tod seiner Frau wirft sein Leben durcheinander, und es wird Jahre dauern, bis er es halbwegs wieder im Griff hat. In der Nacht nach ihrem Tod kann er nicht schlafen. Es ist drei Uhr früh, als er die Nummer des Notdienstes seiner Krankenkasse wählt. Es nimmt tatsächlich jemand ab. „Ich sagte, dass meine Frau gerade gestorben ist und ich ein einjähriges Kind habe. Und dass ich ganz schnell eine Vater-Kind-Kur brauche.“ Drei Wochen später fährt er mit seiner Tochter ins Ostseebad Großenbrode nahe Fehmarn; die ältere Tochter seiner Frau zieht zu ihrem leiblichen Vater.

Ein Therapeut findet Worte für seine Gefühle, die er selbst nicht so ausdrücken kann: „Es stimmte: Ich bin dort mit 200 Sachen aufgeschlagen und war einfach da.“

Ein Pfarrer unterstützt ihn bei der Trauerfeier

Er ist froh, Weihnachten und Silvester nicht zu Hause in Bornstedt sein zu müssen. „Die fünfwöchige Kur hat mir geholfen, wieder aufzustehen.“ Er schafft es, die Trauerfeier für seine Frau von Großenbrode aus geradezu akribisch zu organisieren, die Bornstedter Kirche soll ein Blütenmeer sein, seine Cousine, eine gelernte Floristin, sorgt dafür. „Es war das Letzte, was ich Nicole geben konnte“, sagt Müller. Es berührt ihn, dass Pfarrer Friedhelm Wizisla ihm in Gesprächen beisteht und ihn bei der Trauerfeier unterstützt, obwohl Müller konfessionslos ist.

Er ist am Ende. Aber noch in der Kurklinik sucht er im Internet nach Hilfe in Potsdam: „Ich habe gemerkt, dass ich das allein nicht auf die Reihe bekomme.“ Er stößt auf die Hoffbauer-Stiftung, die eine Trauerbegleitung anbietet. Müller probiert es aus. Einmal wöchentlich fährt er nach Hermannswerder: „Es war ein Überlebenskampf, von Termin zu Termin.“ Der Witwer hat keine Kraft zu arbeiten, ein ganzes Jahr ist er krankgeschrieben.

„Ich wurde phlegmatisch und war wie leblos“

Aber er braucht noch mehr und organisiert sich mehr: Therapiestunden im Familienhaus in der Dortustraße, außerdem noch Einzelstunden bei Psychotherapeuten. Er kann es kaum aushalten, wieder in seinem Haus zu leben. „Ich konnte nur die Küche und das Kinderzimmer betreten“, sagt er, „ich musste mir nach und nach jedes Zimmer zurückerobern.“ Schließlich strukturiert er das Haus um, Schlaf- und Kinderzimmer sind nun auf einer Ebene.

Am schlimmsten sind für ihn die Wochenenden, vor allem der Sonntag, der Todestag seiner Frau: „Jedes Mal war das ein Sturz in die Tiefe. Ich wurde phlegmatisch und war wie leblos, aber ich dachte: Das hat meine Tochter nicht verdient.“

Immer wieder quälen ihn Erinnerungen. Die Müllers haben sich 2016 ein neues Auto angeschafft und seiner Schwester das alte überlassen. Er kann es nicht ertragen, wenn sie ihn damit besuchen kommt. Er kennt das Geräusch des Auspuffs und der ins Schloss fallenden Fahrertür, täglich ist seine Frau damit nach Berlin gefahren, tief haben sich die Geräusche in sein Unterbewusstsein eingebrannt. Er bittet seine Schwester, ein Stück entfernt zu parken.

Es gibt eine Metapher, die Müller von den Trauerbegleiterinnen gelernt und sich zu eigen gemacht hat: „Am Anfang ist die Trauer ein riesengroßer Felsblock, der dich erschlägt. Mit emsiger Arbeit versuchst du den kleinzuklopfen, und am Ende trägst du ein kleines Steinchen dein Leben lang mit dir.“ Er denkt einen Moment nach und fügt etwas hinzu: „Bei mir hat es drei Jahre gedauert, und es schwingt noch immer bei vielem mit.“

Arbeit als Ablenkung?

Viele tun ihm weh, ohne es zu wollen, „wir haben doch alle nicht gelernt, mit dem Tod umzugehen“. Als er zufällig einen Kollegen an einer Tankstelle trifft, rät der ihm, doch bald wieder Arbeiten zu gehen, das lenke ab: „Nach fünf Wochen Kur musst du doch wieder fit sein.“ Inhaltsleere Floskeln, oft Ausdruck von Hilflosigkeit, gehen ihm unter die Haut. Sätze wie: „Das wird schon wieder“ oder: „Ich wünsche dir viel Kraft.“

Müller geht mit seiner Tochter zum Babyschwimmen. Zwei Angestellte unterhalten sich, der Tod der jungen Mutter hat sich herumgesprochen. Als Vater und Tochter die Halle betreten, verstummt das Gespräch abrupt. „Ich fühlte mich oft wie ein Ausgestoßener“, sagt er.

Müller profitiert von den vielen Angeboten der Hoffbauer-Stiftung. Er besucht außer Einzelsitzungen die Trauergruppe für Erwachsene und freut sich, wenn, vor Corona, alle paar Wochen zu Familientreffen für Trauernde und Abschiednehmende eingeladen wird. Man geht gemeinsam Bowlen, Reiten oder Klettern und tauscht sich aus: „Niemand muss sich erklären, jeder kann einfach fragen: Wie oft gehst du zum Friedhof? Wie gehst du mit anderen um?“

Erklären, was Trauer ist

Müller empfiehlt die Trauerbegleitung „allen, die so wie ich plötzlich Witwer werden. Die Leute hier wissen, wovon sie reden“. Und es tut ihm gut, dass die Frauen, die ihm dort helfen, ihn auch zwischendurch anrufen um sich nach ihm zu erkundigen.

Nicole Menzel, eine der Trauerbegleiterinnen, beschreibt, was wichtig ist, um einen Ausweg aus einer solchen Lebenskrise zu finden: „Der Trauernde leistet die Arbeit. Wir sind nur Wegbegleiter und helfen mit, die Last zu tragen.“ Die Mitarbeiterinnen „erklären, was Trauer ist, damit die Menschen sich selbst verstehen“. Denn viele hätten in dieser Situation „das Gefühl, verrückt zu werden“. Man müsse den Mut haben, sich in die tiefen Gefühle der Trauer hineinfallen zu lassen, sagt sie, „Bernd Müller hat diesen Mut gehabt.“

Auch mehr als vier Jahre nach dem Tod seiner Frau hat er noch immer Kontakt zur Hoffbauer-Stiftung. „Es ist hier so, als ob man nach Hause kommt”, erzählt er.

*Namen von der Redaktion geändert

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