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Tanzen mit Sehbehinderung: Als Prinzessin im Neuen Palais

Der Potsdamer Verein Pro Sehen engagiert sich für blinde Jugendliche. Am Samstag ermöglichte er eine Schlossführung der besonderen Art für Kinder mit Sehbehinderung – inklusive Tanzerlebnis.

Potsdam Rechts, ein kleiner Knicks, links, rechts, links, wieder ein kleiner Knicks. Yvette Arnholdt erklärt, wie ein Menuett getanzt wird. Sechs Kinder im Alter von vier bis elf Jahren hören der Museumspädagogin dabei gebannt zu. Kurz zuvor hatten die Kinder ihre Alltagskleidung gegen Gewänder im Stil des 18. Jahrhunderts getauscht. Dann wird das Menuett mit vorsichtigen Schritten geübt: Zwischendrin wird Yvette Arnholdt von einem der stilvoll gewandeten Mädchen gefragt: „Hast du noch deine alten Kleider an?“ Die Frage ist nicht verwunderlich, denn fast allen Kindern, die sich an diesem Samstagnachmittag im Besucherzentrum am Neuen Palais mit ihren Eltern versammelt haben, ist eines gemein: Sie sind sehbehindert.

Der Potsdamer Verein Pro Sehen hat in Zusammenarbeit mit der Schlösserstiftung diesen Nachmittag organisiert. Den Kindern soll ein besonderes Erlebnis geboten werden. Einmal als Prinzessin im Kleid tanzend durch einen echten Schlosssaal schweben – davon träumt sicher so manches Mädchen. Heute kann dieser Traum hier in Erfüllung gehen. Noch ein paar Mal werden jetzt die Menuettschritte geübt, dann geht es hinüber ins Neue Palais. Arnholdt führt die Kinder und ihre Eltern durch das Untere Vestibül hinein in den Grottensaal. Der Raum beeindruckt durch seine aufwendige Wandgestaltung mit Muscheln, Glas und Mineralien aus aller Welt. Aber was von dieser Pracht nimmt ein blindes Kind wahr? Zumindest die Größe des Saals ist beim Sprechen leicht zu bemerken. In einem großen Festsaal breitet sich der Schall hörbar anders aus als in einem kleinen Zimmer.

Endpunkt der Schlossführung ist an diesem Samstagnachmittag die Marmorgalerie hinter dem Grottensaal. Hier findet zugleich der Höhepunkt der kleinen Schlossexkursion statt. Denn nun darf getanzt werden. Eine echte Hofkapelle spielt zwar nicht auf, aber für barocke Tanzmusik sorgt ein Rekorder, den Arnholdt auf den Fußboden der Marmorgalerie gestellt hat. Zu zweit oder auch alle gemeinsam im Kreis: Jetzt wird das Tanzbein geschwungen. „Ihr müsst euch vorstellen, früher waren hier ganz viele Leute eingeladen“, erklärt Arnholdt das höfische Treiben, während sie selbst gemeinsam mit den Kindern und einer Mutter im Kreis tanzt.

Der einzige Junge unter den tanzenden Kindern ist der zehnjährige Sebastian. Gemeinsam mit ihm und seiner Schwester Isabella haben sich seine Eltern von Berlin aus auf den Weg nach Sanssouci gemacht. Sebastian, jetzt im blauen Uniformrock und mit braunem Dreispitz, kann – anders als die anderen Kinder hier – ohne Einschränkungen sehen. Seine Schwester kann wahrscheinlich nur hell und dunkel unterscheiden, erklärt ihr Vater. Das Tanzen im Schloss gefällt Isabella. Sie würde es gern wieder einmal tun, sagt die Siebenjährige. Und auch ihr Bruder Sebastian freut sich für seine Schwester, dass sie hier gemeinsam mit anderen Kindern etwas erleben kann. Denn so gesellig unter Gleichaltrigen zusammen sein, könne Isabella häufig nicht: „Meine Schwester ist ja blind und wir haben sonst eigentlich nur Kinder in der Gegend, die sie nicht beachten“, erläutert der Zehnjährige die Probleme seiner Schwester in der Umgebung der Berliner Familienwohnung.

Damit Kinder wie Isabella besser am sozialen Leben teilhaben können, gibt es den Verein Pro Sehen. Man wolle Hilfe zur Selbsthilfe anbieten, sagt Gründungsmitglied Rainer Hähnel. Nicht nur die Betroffenen müssten lernen, mit ihrem Handicap umzugehen, sondern auch die Gesellschaft sei gefordert. Im englischsprachigen Raum sei man in dieser Hinsicht weitaus fortschrittlicher. Der Potsdamer weiß, wovon er spricht: Seine Tochter, heute 32 Jahre alt, ist selbst blind. Während es in Deutschland viele bürokratische Hemmnisse für blinde Menschen gebe, habe seine Tochter Anica Zeyen im englischsprachigen Ausland wesentlich leichter Unterstützung von Behörden und Ausbildungseinrichtungen erhalten. Dafür, dass man auch mit einer Sehbehinderung Karriere machen kann, ist sie ein herausragendes Beispiel: Heute arbeitet Zeyen als Dozentin für Strategie und Nachhaltigkeit an einer Londoner Universität. Ihre Position ist vergleichbar mit der einer Juniorprofessorin in Deutschland.

Während Hähnel im Besucherzentrum der Schlösserstiftung von seiner Tochter berichtet, sitzen die jungen Schloss-Erkunder – mittlerweile wieder zurückgekehrt aus dem Neuen Palais – gemeinsam mit ihren Eltern an einer großen gedeckten Tafel. Hier gibt es jetzt Kaffee und Kuchen. Ganz normal.

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