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„Ich lebe noch.“ Peter Seele mit seiner russischen Wintermütze aus Polarfuchs vor dem ehemaligen sowjetischen Geheimdienstgefängnis in der Potsdamer Leistikowstraße. Die Mütze ist eines der Exponate der Ausstellung „Workuta – Zur Geschichte eines Straflagers“, die am 31. Mai 2013 eröffnet wird.

© Andreas Klaer

Landeshauptstadt: Streifschuss wie ein Peitschenhieb

In der Gedenkstätte Leistikowstraße wird an den blutigen Häftlingsaufstand von Workuta vor 60 Jahren erinnert

Das werde er nie vergessen, sagt Peter Seele. Er hat noch vor Augen, wie der Sprecher der streikenden Häftlinge von Workuta vor den sowjetischen General tritt. Es ist ein Russe wie dieser auch; im Krieg war er schwer verwundet in deutsche Gefangenschaft geraten, was ihm nach dem Sieg über Hitler-Deutschland 25 Jahre Arbeitslager einbrachte. Ein Soldat der Roten Arme, hieß es zu Stalins Zeiten, geht nicht in Gefangenschaft. Doch Diktator Josef Stalin war am 5. Mai 1953 gestorben, die Häftlinge des berüchtigten Gulags in der nordrussischen Polarregion – darunter Zehntausende deutsche Kriegsgefangene, aber auch nach 1945 in der ostdeutschen Besatzungszone Verhaftete – hofften auf verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen, auf mehr Rechte, gar auf die Freilassung. Doch der General zog seine Dienstpistole – „Peng, Kopfschuss, da lag er!“, berichtet Zeitzeuge Seele.

Der 60. Jahrestag des Häftlingsaufstandes von Workuta ist Gegenstand der diesjährigen Themenwoche 2013 der Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße. Vom 28. bis 31. Mai sind im ehemaligen Untersuchungsgefängnis sowjetischer Geheimdienste mehrere Vorträge, Filmvorführungen und Zeitzeugengespräche zu erleben. Höhepunkt ist am Freitag, dem 31. Mai, die Eröffnung der Ausstellung „Workuta – Zur Geschichte eines sowjetischen Straflagers“, die u.a. vom ehemaligen Workuta-Häftling Horst Schüler erarbeitet wurde. Dem schließt sich eine Kranzniederlegung an. Im Gefängnis Leistikowstraße waren nach 1945 Häftlinge aus dem Osten Deutschlands inhaftiert, bevor sie je nach Urteil in die Arbeitslager des Gulag-Systems kamen oder in den Kellern des Moskauer Geheimdienstgefängnisses Botyrka hingerichtet wurden.

Nach einer Denunziation hält der sowjetische Geheimdienst Peter Seele für einen Spion. Selbst eine Scheinerschießung in einer Kiesgrube bei Bornstedt kann ihn nicht dazu bringen, ein Geständnis zu unterschreiben. „Ich bin kein Spion!“, sagt er, dann heißt es wieder „Ogon!“ – „Feuer!“ – und die Kugeln aus den Kalaschnikows fliegen ihm um die Ohren. Ihm versagen die Beine. „Wach geworden bin ich mit Handschellen auf dem Lkw.“

„Ogon!“ brüllte auch der General an diesem Märztag des Jahres 1953, nachdem er den Streikführer erschossen hatte, berichtet der 84-jährige Seele am Dienstag vor Journalisten in der Leistikowstraße. Wie die Gedenkstättenleiterin Ines Reich hinzufügt, hatte der Geheimdienst NKWD Truppen um Workuta zusammengezogen. Seele berichtet von Dauerfeuer auf die Häftlinge. Er wirft sich in einen Graben, doch es trifft ihn ein Streifschuss „wie ein Peitschenhieb“, berichtet Seele, später kam „Wodka drauf und gut“. Die Geheimdienst-Truppen verwendeten Spezialmunition, Geschosse mit abgeschrägter Spitze oder leicht verformbarem Stahlmantel, sogenannte Dum-Dum-Geschosse, die große Wunden verursachen. Peter Seele beschreibt einen getroffenen Häftling: „Die Hälfte vom Gesicht lag auf der Schulter.“ Und: „Das Blut ist in die Gräben geflossen.“ Wie die Historikerin Reich erklärt, sei es am Schacht 29 zu diesen dramatischen Ereignissen gekommen, bei denen es zunächst 60 Tote gab, über 100 Verwundete seien noch später ihren Verletzungen erlegen. Das Geschoss, das ihm einen riesigen Striemen über den Rücken zog, hat Seele später ausgegraben. Es hatte eine grüne Spitze, am Abend warf er es ins Feuer, „mit einem Mal kracht es, anstelle des Feuers war ein Loch“. Seele zufolge war demnach mit einem Explosivgeschoss auf ihn gefeuert worden.

Weihnachten 1955 kommt Seele nach Hause. In Workuta bekommt er zum Abschied einen Packen alter Rubelscheine ausgezahlt, von dem aber klar ist, dass er es an der polnischen Grenze wieder loswerden würde. Also kauft Seele, was es an einem russischen Bahnsteig zu kaufen gibt, darunter eine Shapka, eine Wintermütze aus dem Fell eines Polarfuchses. Es ist heute Seeles bestes Stück. In der Workuta-Ausstellung wird diese Mütze als Exponat zu sehen sein, wenn wohl auch nicht für immer: „Die geht mit in die Kiste“, sagt Seele, in dessen Lieblingssatz stets eine gewisse Verwunderung mitschwingt: „Ich lebe noch.“

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