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Landeshauptstadt: Stadtgeschichte à la carte

Wie sah Potsdam früher aus, wie wandelten sich Kiez und Nachbarschaft mit der Zeit? Die Postkartensammlung von Klaus Hellenthal mit Exemplaren seit 1870 ist eine Fundgrube, nicht nur für Historiker

Die Marienstraße in Babelsberg gibt es tatsächlich, auch wenn sie heute anders heißt. Klaus Hellenthal zeigt eine Ansichtskarte, Häuser, gepflegte Vorgärten, Kinder und Nachbarn auf Straße und Gehweg. Kein einziges Auto ist in der heute meist zugeparkten Straße am Karl-Liebknecht-Stadion zu sehen. Hellenthal, Nachwende-Potsdamer und historisch interessiert, sitzt vor Kartons mit 3700 historischen Postkarten und lächelt. „Ich erlebe schon manchmal sehr emotionale Reaktionen, wenn die Leute ihre Straße entdecken.“

Diese Straße, einst benannt nach Prinzessin Marie (1808-1877), Gemahlin des Prinzen Karl, bekam zu DDR-Zeiten den unverfänglichen Namen des Arztes Semmelweis. Das Katzenbuckelpflaster ist noch da, doch die alten Bäume mussten bereits vor der anstehenden Sanierung weichen. Irgendjemand hat diese Anwohnerstraße mit der kleinen Nachbarschaftsszene in den 30er-Jahren fotografiert und als Postkarte produziert; 1936 schickte eine Lucie diese dann an ihren Vater: Man sitze gerade im Garten bei Mutter... und Sonnabend 1/2 sieben werde man vom Lehrter Bahnhof abfahren.

Viele solcher Bilder und Geschichten birgt die umfangreiche Sammlung von Post- und Ansichtskarten, die Hellenthal bisher zusammengetragen hat. Auf seiner Internetseite www.grussauspotsdam.de registrierte er zuletzt im März 32 000 Besucher – ohne Doppelzählung. Die Datenbank mit den gescannten Bildern darf gebührenfrei genutzt werden – ein Service, den Hellenthal gern anbietet. Auch Potsdam Museum und Schlösserstiftung profitieren von der Sammlung. „Wir sind im Austausch“, sagt Hellenthal. Regelmäßig versorgt er Stadthistoriker wie Klaus Arlt mit Anschauungsmaterial.

Der geborene Münsterländer kam in den Achtzigern nach Westberlin und besuchte 1988 zum ersten Mal die Nachbarstadt Potsdam. Keine Ahnung habe er von der preußischen Geschichte gehabt. „Ich konnte mit Friedrich dem Großen nichts anfangen“, sagt er. Nach der Wende kam er wieder, er war neugierig geworden, und die Menschen, die mehrere Gesellschaftssysteme erlebt hatten, beeindruckten ihn. Weil ihn die Backsteinhäuser des Holländischen Viertels an die Bauweise in seiner Heimat erinnerten, kaufte die Familie schließlich ein Holländerhaus. Eine Ruine mit zugemülltem Hinterhof, Dreck und Unrat im Keller und auf dem Dachboden. Heute wirkt das Haus wie ein bewohntes Museum, Alt und Neu existieren ganz unprätentiös nebeneinander. In einer Vitrine liegen sogar Fundstücke, Zeugnisse einstiger Hausbewohner: Scherben, Wäscheklammern, Knöpfe, Kinder-Holzpantinen und Türbeschläge. Nur eine Postkarte von seinem Haus, die hat Hellenthal nicht. Er hätte sie damals, als es darum ging, das Haus nach den Auflagen des Denkmalamts zu sanieren, als Referenzobjekt gut gebrauchen können.

Die halbe Stadt kann er heute aus seinen Kartons zaubern, die Karten, jede einzeln in einer Schutzhülle verpackt und nummeriert, sind Dokumente aus Jahrzehnten der Stadtgeschichte. Das älteste Exemplar seiner Sammlung stammt aus dem Jahr 1870. Bereits 30 Jahre später war das Sammeln von Ansichtskarten ein angesagtes Hobby. Es wurden massenweise Karten hergestellt, gekauft und verschickt, an Daheimgebliebene, an die oder den Liebsten. „Die Ansichtskarte war damals eine Kontaktbörse“, sagt Hellenthal. Dazu kam, dass in Potsdam stets viel Militär stationiert war und es deshalb viele Feldpostkarten gibt. „Man wollte zeigen, wo und wie man untergebracht ist, wie es aussieht in der Nachbarschaft“, so Hellenthal. Deshalb sei es damals nicht ungewöhnlich gewesen, Häuser und Straßen mit Anwohnern davor zu fotografieren. Die waren stolz auf ihr Heim, auf ihr Kleingewerbe, ob Bäckerei oder Stellmacher. Die Karten zeigten zwar auch damals schon beliebte touristische Ziele, Sanssouci, das Stadtschloss, die Garnisonkirche. Aber eben auch das Potsdam der Bürger, Nebenstraßen, einzelne Häuser, Tennisplätze, Badeanstalten, Parkanlagen.

Hellenthal, der in der Region zwei Baumärkte betreibt, interessierte sich anfangs nur für Karten mit technischen Motiven, Verkehrsmitteln wie Autos beispielsweise. Die ersten Karten kamen vom Flohmarkt, und irgendwann, nachdem ihm eine Karte mit einem Auto vor der Orangerie in die Hände gefallen war, entschied er sich, das Sammeln auf Stadtansichten auszuweiten. „Es macht mir Spaß, das Bild von Potsdam systematisch zu vervollständigen“, sagt er. Von manchen Objekten gibt es gleich mehrere Karten. Ein Gasthaus in Fahrland wurde jedes Jahrzehnt fotografiert, eine Langzeit-Dokumentation, die zeigt, wie sich das kleine Häuschen entwickelte, Werbung angebracht wurde und eines Tages eine Bushaltestelle vor dem Haus zu sehen ist. „Das ist Stadtgeschichte“, sagt Hellenthal. Auch in Sachen Denkmalschutz, wenn es zu klären gibt, wie historische Fassaden, Fensterverglasung, die Giebelkonstruktion oder Schornsteine ausgesehen haben, wenden sich häufig Potsdamer an ihn. Und letztlich finden sich zahlreiche Ansichten, die belegen, wie Potsdam vor den Bombenangriffen aussah, mit verschwundenen Straßenzügen, Sichtachsen, Plätzen, dem Kanal. Manchmal ist die Stadt heute nicht mehr wiederzuerkennen. Es freut ihn dann, wenn Potsdamer Fotografen wie Helmut Matz aktuelle Fotos aus derselben Perspektive in sein Archiv einspeisen.

Heute sucht Klaus Hellenthal kaum noch auf Flohmärkten. Potsdams Antikmeile sei eine gute Fundgrube, sagt er, manche Händler kennen ihn schon. Außerdem informiert er sich auf Sammlerbörsen und regelmäßig in Fachmagazinen. Dadurch bekommt er auch Potsdam-Karten aus aller Welt zugeschickt, aus allen Kontinenten. Es muss aber das echte Potsdam abgebildet sein, sagt er, mit den anderen fünf „Potsdams“ weltweit kann er wenig anfangen.

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