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Stadtentwicklung in Potsdam: Wenn Lastkraftwagen Häuser durchsägen

Siegfried Lieberenz hat zu DDR-Zeiten die Abrisswut in Potsdam dokumentiert. Aus Hunderten seiner Fotos ist jetzt ein Buch entstanden.

Von Peer Straube

Potsdam - Fachhochschule, Staudenhof, Rechenzentrum – wenn heute in Potsdam das Wort Abriss fällt, dann geht es fast immer um das Bauerbe aus DDR-Zeiten. In der Dauerbrennerdebatte über den Wert der sozialistischen Innenstadt-Gebäude ist das, was vorher dort stand, etwas aus dem Blickfeld geraten. Der Potsdamer Knotenpunkt-Verlag kontert nun mit einem Werk, das sich mit der Abrissgeschichte in Potsdam zwischen 1950 und 2000 beschäftigt. Im Fokus stehen dabei die Jahre bis zum Mauerfall, in denen das Bild der Potsdamer Altstadt zumindest für die Alteingesessenen vielerorts bis zur Unkenntlichkeit verändert wurde.

Die Fotos aus diesem Bildband stammen von Siegfried Lieberenz. Seit seiner Zeit als Lehrling in einem Stuckateurbetrieb ist der heute 82-Jährige mit seiner Kamera in der Stadt unterwegs. Sein Fotoschatz wuchs über die Jahre derart an, dass er den größten Teil seiner Sammlung, darunter mehr als 33 000 Bilder und 800 Bücher, dem Potsdam Museum schenkte. Einen Teil aber behielt er, darunter Hunderte Fotos, die den jahrzehntelangen systematischen Kahlschlag in der historischen Substanz eindrucksvoll belegen. Denn Lieberenz lichtete nicht nur die bekannten großen Abbruchsünden wie Stadtschloss oder Garnisonkirche für die Nachwelt ab, sondern auch eine Vielzahl weniger bekannter oder heute fast vergessener Abrisse – nicht alle waren freilich politisch motiviert.

Ein Beleg für den jahrzehntelangen systematischen Kahlschlag in der historischen Substanz

Der Krieg habe große Wunden ins Stadtbild geschlagen, aber als nach der Enttrümmerung der Stadt die Abrisse begannen, „dachte ich, das musst du festhalten“, erzählt Lieberenz. Entstanden sind Tausende Fotos, oftmals auch unscharf, denn gern gesehen wurden Dokumentationen dieser Art in der DDR bekanntlich nicht. „Meine Stasiakte ist so dick“, sagt Lieberenz schmunzelnd und hält die Finger drei Zentimeter weit auseinander. „Damals wäre ich damit auch nie an die Öffentlichkeit gegangen – höchstens in den Knast“, erklärt der Rentner.

Doch nach dem Fall der Mauer drängten ihn Freunde und Verwandte immer wieder, das Ergebnis seiner Arbeit publik zu machen. Über die gemeinsame Potsdam-Leidenschaft lernte Lieberenz schließlich Robert Lambrecht kennen. Der Gründer des auf historische Publikationen spezialisierten Knotenpunkt-Verlags war sofort Feuer und Flamme. „Ich bin immer auf der Suche nach dem besonderen Potsdam-Projekt“, beschreibt der 66-Jährige sein Geschäftsmodell. „Themen, über die es schon vier oder fünf Bücher gibt, sind nichts für mich.“

Neue Einblicke, zum Beispiel beim Areal zwischen Zeppelinstraße und Havelbucht

In der Tat betreten Lieberenz und Lambrecht, der als Historiker die Texte verfasst hat, mit ihrem Buch wohl Neuland. „Ich kenne jedenfalls nichts Vergleichbares“, sagt Lambrecht. Bei älteren Potsdamern dürfte „Bevor der Abrissbagger kommt“ – so der Titel des Werks – längst verschüttete Erinnerungen wecken. Für jüngere – selbst ortskundige – und Zugezogene hingegen bietet es reichlich historischen Lernstoff. Obwohl dankenswerterweise ein Stadtplan im Buch enthalten ist, fällt es oft schwer, den Überblick zu behalten, weil oftmals ganze Straßenführungen verändert wurden. Zusammengesetzt ergibt das Puzzle jedoch das faszinierende Bild einer Stadt, deren Aussehen noch bis weit in die 1970er- und selbst 80er-Jahre hinein von mehr historischer Substanz geprägt war, als man glauben könnte.

Prominentes Beispiel ist das Areal zwischen Breiter und Zeppelinstraße. Noch bis zur Mitte der 70er-Jahre war der Bereich rund um die heutige Kreuzung Breite/Zeppelinstraße mit alten Wohnhäusern bebaut, zudem hatten dort zahlreiche Firmen ihren Sitz, die Holzhandlung von Carl Becker etwa oder die Villa des Fuhrunternehmers und Kohlehändlers Rudolf Hinz, die 1978 abgerissen wurde, obwohl sie unter Denkmalschutz stand. Die riesige Fläche, die sich entlang der Zeppelinstraße zwischen der Straße Auf dem Kiewitt und Luisenplatz erstreckte, wurde Ende der 70er-Jahre komplett beräumt, von der historischen Substanz blieb nur die „Moschee“ an der Neustädter Havelbucht stehen.

Potsdams einzige Jugendstilkirche wurde 1985 abgerissen

Ziel war es damals, die Breite Straße bis zur Zeppelinstraße zu verlängern, links und rechts wurden die heute noch stehenden „Wohnscheiben“ hochgezogen, außerdem die Markthalle, die nach der Wende ihrerseits durch einen Neubau ersetzt wurde. Lieberenz’ Bilder zeigen, wie viel historisch bedeutsame Wohnhäuser damals dem Abrissbagger zum Opfer fielen – alle waren bis zum Anrücken der Bagger bewohnt. Die lokale Presse, schreibt Lambrecht, habe damals sogar mit einem gewissen Stolz über die Arbeiten berichtet, weil eine „interessante Technologie“ zum Einsatz gekommen sei: Um die Häuser seien Stahlseile gelegt worden, deren Enden man jeweils an einem Lkw befestigt habe. Durch wechselseitiges Anziehen der Seile sei das Haus quasi durchgesägt worden, bis es zusammenfiel.

Ausführlich widmet sich das Buch auch den schon damals umstrittenen Abrissen in der zweiten barocken Stadterweiterung, etwa in der Gutenberg-, Dortu- und der Jägerstraße. Auch der Kahlschlag entlang der Heiliggeiststraße sowie die Abbrüche der Häuser an der Alten Fahrt, die Potsdam einst den Namen Klein-Venedig einbrachten, sind ausführlich dokumentiert.

Daneben finden sich auch viele heute kaum noch bekannte Bauwerke wie Potsdams einzige Jugendstilkirche, die in der Heinrich-Mann-Allee nahe dem Horstweg stand und die erst 1985 abgerissen wurde. Von diesem Gotteshaus existieren nur sehr wenige Aufnahmen, vor allem aus dem Inneren, sodass allein dieses Kapitel nicht nur Historikerherzen höher schlagen lassen dürfte. Lieberenz und Lambrecht freuen sich, dass Potsdams Mitte jetzt nach und nach im Wesentlichen ihr altes Gesicht zurückbekommt. Der Alte Markt mit Schloss und Museum Barberini sei doch eine „tolle Touristenattraktion“ geworden, sagt Lieberenz. Entsprechend wenig hält er von einem Erhalt der Fachhochschule. Wo DDR-Architektur den historischen Charakter der Mitte „nicht stört“, könne sie aber stehen bleiben, meint er. Das Minsk beispielsweise sei erhaltenswert. Am Montag, dem 27. November, soll das neue Buch um 18 Uhr in der Französischen Kirche öffentlich vorgestellt werden. Der Ort ist mit Bedacht gewählt. Gleich daneben wurden Ende der 80er-Jahre mehrere Holländerhäuser abgerissen. Sie wurden erst kürzlich wiederaufgebaut.

Siegfried Lieberenz, Rainer Lambrecht: Bevor der Abrissbagger kommt. 240 Seiten, Knotenpunkt-Verlag, 26,95 Euro. Im Internationalen Buch und im PNN-Shop in der Wilhelm- Galerie erhältlich.

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