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In der heutigen Gedenkstätte Lindenstraße befand sich zu DDR-Zeiten ein Stasi-Untersuchungsgefängnis.

© Ottmar Winter PNN

Sonderschau zum 60. Jahrestag des Mauerbaus: Die innere Dimension der Vergangenheit

Stasi und Mauerbau: Die Ausstellung der Gedenkstätte Lindenstraße widmet sich dem Jahr 1961 – und erweckt mit einem Comic Häftlingsbiografien künstlerisch zum Leben.

Potsdam - An Wolfgang Hörnig kommt man nicht vorbei. Damals, 1961, nicht. Und auch heute nicht. Vor sechzig Jahren gehörte er zum hauptamtlichen Personal der Staatssicherheit, Dienststelle: Untersuchungsgefängnis in der Lindenstraße. Posten: Abteilungsleiter. Heute ist das Gefängnis Gedenkstätte und Hörnig schaut einem beim Betreten der aktuellen Sonderausstellung auf Augenhöhe entgegen. Ihr Titel: „1961. Geheimpolizei und Mauerbau im Bezirk Potsdam“.

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Das ist konfrontativ und bedrückend, und genau so gewollt. Kurator Sebastian Stude, Historiker, will mit der Ausstellung Bezüge herstellen und sichtbar machen: zwischen dem Ordnungs- und Grenzgedanken, der zum Mauerbau am 13. August 1961, der sich in diesem Jahr zum 60. Mal jährt, führte. Zwischen den Inhaftierten – und „den Herrschern“, wie er sagt. Menschen wie Hörnig, die dafür sorgten, dass der Apparat funktionierte.

In der Ausstellung bringt die Gedenkstätte verschiedene Perspektiven auf das Stasigefängnis zusammen.
In der Ausstellung bringt die Gedenkstätte verschiedene Perspektiven auf das Stasigefängnis zusammen.

© Ottmar Winter PNN

Dieser Blick auf das hauptamtliche Personal der Staatssicherheit ist neu. Und er eröffnet neue Perspektiven. Hörnig, der kurz nach dem 13. August bei der Staatssicherheit zum Major aufsteigen sollte, war gelernter Stahlbauschlosser. Gerät in sowjetische Kriegsgefangenschaft, tritt 1950 in die SED ein. Fünf Jahre später leitet er die Untersuchungsanstalt.

„Der Mauerbau war eindeutig auch eine Karrierechance“, sagt Kurator Stude. Neue Dimensionen der Repressionen forderten neue Helfer. Man musste sich nur dem Schichtdienst unterwerfen, und natürlich den Bedingungen des Regimes.

Mauerbau wirkte sich auf Häftlingszahlen in Potsdam aus

Wie groß der Bedarf an Schließern und Verhörern war, macht ein interaktiver Medientisch im Zentrum der Ausstellung deutlich. Hier können Biografien der Inhaftierten abgerufen, ihre Lebenswege bis ins Heute verfolgt werden. Und man kann über Grafiken nachvollziehen, wie sich der Mauerbau auf die Belegung in der Lindenstraße auswirkte: 1960 gab es 106 Häftlinge, 1961 knapp doppelt so viele. Nur 1953, im Jahr des Volksaufstands in der DDR, und in den 1980er Jahren waren es mehr. Der Mauerbau war für die Stasi eine Möglichkeit der Profilierung, „sie konnte sich politisch aufwerten“, wie Stude es formuliert. 

Flucht durch Schmutzwasserkanäle

Einer der Häftlinge des Jahres 1961 war Carl-August von Halle, ein Architekturstudent aus Berlin- West. Inhaftiert am 6. Oktober 1961. Der Vorwurf: „Beihilfe zum ungesetzlichen Grenzübertritt“. Von Halle hatte Menschen aus Ostberlin zur Flucht verholfen. Genutzt hatte er die unterirdischen Regen- und Schmutzwasserkanäle. Gefasst wurde er aufgrund einer Falle, gestellt von einem Ehepaar aus Babelsberg, beide inoffizielle Mitarbeiter der Stasi. Er wird zu 26 Monaten Haft verurteilt, die er größtenteils in Magdeburg absitzt.

Im Potsdamer Stasi-Untersuchungsgefängnis herrschten unwürdige Haftbedingungen.
Im Potsdamer Stasi-Untersuchungsgefängnis herrschten unwürdige Haftbedingungen.

© Ottmar Winter PNN

Die unwürdigen Haftbedingungen in der Potsdamer Durchgangsstation Anfang der 1960er Jahre zeigt ein Foto am anderen Ende des Ausstellungsraumes: ein Holzbett, ein Holzschemel, eine Waschschüssel, statt Toilette ein Eimer. Das Schlimmste aber: Einzelhaft. Völlige Isolation. Dazwischen stundenlange Verhöre.

Begleitband zur Schau "Grenzlinien. Auswege aus der DDR“

Wie sich die Haft angefühlt haben muss, davon berichtet die Begleitpublikation „Grenzlinien. Auswege aus der DDR“ – ein Comicbuch. Diese künstlerisch überformte, radikal subjektive Innenschau ist, in Ergänzung zum faktenbasierten Ausstellungsraum, das eigentliche Pfund der Schau. Die Künstler:innen Birgit Weyhe, Thomas Henseler, Susanne Buddenberg und Ulla Loge erzählen darin drei Flucht- und Haftgeschichten. Auch die des Westberliner Studenten Carl-August von Halle. Die Künstlerin Birgit Weyhe hat den Blecheimer und die Einzelhaft aufgezeichnet, die zermürbenden Verhöre, die nächtliche Schikane durch ständiges Beleuchten der Zelle, die tägliche Schikane durch Ermahnungen, auf der Pritsche gerade sitzen zu müssen. Aber auch den innerlich gefassten Entschluss deutlich gemacht, sich nicht unterkriegen zu lassen – und die Freilassung, die dann folgende Karriere als Architekt und sechsfacher Vater.

Ein Comic erzählt die dramatische Lebens- und Haftgeschichte von Carl-August von Halle.
Ein Comic erzählt die dramatische Lebens- und Haftgeschichte von Carl-August von Halle.

© Repro: PNN

Hörnig, der Aufsteiger, wurde übrigens schon 1963 wieder entlassen. Hörnig hatte jahrelang seine Machtstellung missbraucht und inhaftierte Frauen zu sexuellen Handlungen gezwungen. Im Gegenzug zu nicht näher benannten Vergünstigungen. Stasi-Chef Erich Mielke selbst unterschreibt die Entlassung, und sorgt dafür, dass das Vergehen strafrechtlich nicht verfolgt wird.

Emotional erfahrbare Dimension der Vergangenheit

„Grenzlinien“ soll jeder und jede nach dem Besuch der Ausstellung mit nach Hause nehmen – „als Eintrittskarte“, wie Kurator Stude sagt. Das Buch soll auch für Kinder das inzwischen Unfassbare greifbar machen. Die Bildsprache der Comics mag sich in erster Linie an Jüngere richten, schafft aber auch bei Erwachsenen das, was Ausstellungen allzu oft nicht leisten können: eine emotional erfahrbare Dimension der Vergangenheit. Die tief drinnen empfundene Tatsache, dass mit jedem Inhaftieren auch eine ganze Lebens- und Gefühlswelt in Haft saß.
13. August bis 31. Dezember in der Gedenkstätte Lindenstraße

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