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Das Thusnelda-von-Saldern-Haus in Babelsberg. 

© Ottmar Winter

Siebter Prozesstag im Fall Oberlin: Widersprüche und alltäglicher Wahnsinn

Kollegen der wegen Mordes angeklagten Pflegekraft Ines R. berichteten am Dienstag vom Tag der Tat.

Potsdam - Irma O. will gerade einer Klientin die Zähne putzen, als das Telefon auf der Station läutet. Der Ehemann ihrer Kollegin Ines R., die sie mit sich im Dienst wähnt, ist dran. „Was ist denn passiert? Meine Frau ist ganz aufgelöst.“ Hier wäre alles in Ordnung, entgegnet die 27-jährige Pflegerin. Soweit deckt sich ihre Aussage am siebten Prozesstag vor dem Potsdamer Landgericht mit jener von Thimo R. Der Mann der Pflegekraft Ines R., die im Babelsberger Thusnelda-von-Saldern-Haus des Oberlinvereins während ihres Spätdienstes vier schwerstbehinderte Menschen getötet haben soll, war am 18. November als Zeuge geladen. Er rief, so sagte er, kurz nach dem ersten Anruf noch einmal bei der Arbeitsstelle seiner Frau an. Das sagt auch Irma O. Aber was sie über den Ablauf des zweiten Telefonats berichtet, unterscheidet sich erheblich von der Aussage des Ehemanns. 

„Gucken Sie in die Zimmer, es muss etwas in den Zimmern passiert sein“, habe Thimo R. gesagt. Irma O. geht in das Zimmer der Bewohnerin Lucille H. Weil diese eine Palliativ-Patientin war, sei ihr das am naheliegendsten erschienen. „Alles war blutig, da war ein Loch in ihrer Kehle“, erinnert sie sich. Sie habe die Frau angefasst, „da war sie nur noch lauwarm“.  Das alles, versichert Irma O. am Dienstag, habe sie nicht dem Ehemann erzählt, sondern umgehend den Pflegedienstleiter angerufen. Thimo R. wiederum hatte im Zeugenstand erklärt, dass seine Frau aufgelöst nach Hause gekommen sei und unkonkret davon gefaselt habe, dass etwas Schlimmes passiert sei. Der Polizei – der Notruf in der Leitstelle um 20.50 Uhr ist protokolliert – sagt er, dass seine Frau wohl „ein paar Leuten auf der Arbeit die Kehle durchgeschnitten“ habe. Bei einem Anruf im Thusnelda-von-Saldern-Haus sei ihm das gerade bestätigt worden. 

Woran erinnert sich Ines R.? 

Diese unterschiedlichen Darstellungen werfen entscheidende Fragen auf: Was weiß Ines R. über das Geschehen am 28. April 2021 und was hat sie ihrem Mann erzählt? Hat sie wirklich so große Erinnerungslücken? Verdrängt sie das Geschehen, das ihr im Prozess immer und immer wieder geschildert wird? Sie selbst hat sich vor Gericht zu den Vorwürfen bislang nicht geäußert. Nur zum Auftakt eine lange Erklärung zu ihrem Leben, ihrer belastenden Arbeit als Pflegekraft, ihren psychischen Problemen abgegeben. Licht ins Dunkel könnte der übernächste Prozesstag am 9. Dezember bringen. Dann stellt die renommierte Gerichtspsychiaterin Cornelia Mikolaiczyk, die den Prozess begleitet, ihr Gutachten vor. Mit der Expertin hatte Ines R. in der Psychiatrie in Eberswalde gesprochen, wo sie seit ihrer Festnahme untergebracht ist. 

Unterschiedliche Angaben zum Zustand der Angeklagten 

Zum Zustand von Ines R. am Tattag machen die Kollegen unterschiedliche Angaben. Irma O. sagt, dass ihr während des gemeinsamen Dienstes nichts Besonderes aufgefallen sei. „Sie war nicht anders als sonst“, sagt Irma O., die erst acht Wochen vor der Tat im Thusnelda-von-Saldern-Haus angefangen hatte. Eine Woche vor den Geschehnissen allerdings habe sie Ines R. angesprochen, weil sie lustlos gewirkt habe. „Es ist alles okay“, habe diese erwidert. Mehrere Kollegen haben R. in der Zeit vor der Tat angesprochen, auch eine Besucherin, wie bereits bei früheren Prozesstagen zur Sprache kam. Die immergleiche Antwort: „Alles in Ordnung.“  Auch Pfleger Dia A. bemerkte in der Zeit vor der Tat eine Veränderung an Ines R. Anders als Irma O. sei ihm das auch am 28. April aufgefallen. „Sie schien sehr traurig zu sein“, berichtet er. „Sie war so anders an diesem Tag.“ Als sie kurz die Station verlassen habe, um, wie sie sagte, Zigaretten zu holen, habe er sich zwar gewundert, weil sie sonst im Dienst nie die Etage verlasse, aber sich nichts weiter dabei gedacht. Die Ermittler vermuten, dass Ines R. nicht Kippen kaufte, sondern ein mitgebrachtes Messer holte, mit dem vier Bewohner getötet und eine weitere Bewohnerin schwer verletzt wurden. Nachdem sie zuerst versucht haben soll, zwei von ihnen zu erwürgen.  Vivien S. begegnet der Angeklagten, als diese mutmaßlich nach der Tat das Oberlinhaus verlässt. Dabei seien ihr keine Besonderheiten an Ines R. aufgefallen, sagt die Heilerziehungspflegerin aus.

Einer Kollegin begegnet sie kurz nach der Tat

Betreuungsassistent Thomas K. ist schon im Dienst, als Ines R. am 28. April auf der Station erscheint. Er grüßt sie, aber sie reagiert nicht, läuft vorbei. „Ich hatte das Gefühl, sie ist abwesend.“ Später kommt er mit einem Großeinkauf für die Klienten zurück, Hygieneartikel, Duschgel. „Schau mal, wieder tausend Sachen“, habe er zu Ines R. gesagt. Sie habe nur desinteressiert „Ja,ja“ geantwortet. Die Arbeit im Wohnpflegebereich beschreibt Thomas K., speziell in der Corona-Zeit, als „alltäglichen Wahnsinn““. Kollegen seien ausgefallen, die Umsetzung der Hygiene-Maßnahmen, etwa Zugangskontrollen für Besucher, hätten zusätzlich Stress verursacht. Vor allem die „berüchtigten Zweier-Dienste“ seien an die Substanz gegangen. Dienste, die statt mit drei oder vier Pflegekräften nur mit zweien besetzt gewesen seien, so dass er schon mal bei der Essensvorbereitung ausgeholfen habe, was gar nicht seine Aufgabe gewesen sei. Auch die stellvertretende Pflegedienstleisterin Annekathrin K. sagt: „Das war schon knackig.“ 

Den Bewohnern gegenüber sei sie liebevoll gewesen 

Einig sind sich alle Kollegen in der Beschreibung von Ines R. Wie schon andere zuvor sprechen auch am Dienstag alle von ihr als hilfsbereiter, den Bewohnern gegenüber liebevollen Pflegekraft. Auch Irma O., obwohl sie sich in der kurzen Zeit der Zusammenarbeit persönlich nicht näher gekommen seien. Ines R. sei sie zu ruhig gewesen, habe diese ihr gesagt. Als unangenehm habe sie die überraschende Frage von Ines R. in einer Pause empfunden: „Magst du mich?“ Sie habe ausweichend geantwortet. Ines R. habe nachgesetzt: „Respektierst du mich?“ Darauf habe sie scherzhaft „Nein“ geantwortet, aber das habe Ines R. wohl nicht als Ironie aufgefasst. Von einer privaten Einladung zum Grillen sei sie ausgeschlossen worden. Sie vermute, dass Ines R. womöglich Vorbehalte gegen Menschen aus anderen Kulturen habe. Ihr Mann sagte vor Gericht, dass die Mitarbeiterin, mit der er am Tatabend telefoniert habe, nicht so gut Deutsch gesprochen habe. Doch die Schwarze Irma O. ist in Deutschland aufgewachsen, spricht vor Gericht perfekt Deutsch. Mittlerweile hat sie gekündigt. Das habe mit dem 28. April zu tun. „Ich war unter Schock“, sagt sie. Nun fängt sie bei einem anderen Arbeitgeber an. 

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