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Sichtachsen in Potsdam: Geometrie der Stadt

Straßenführung, Fensterzahl, Traufhöhe: Der Maler Olaf Thiede erklärt Potsdams barocke Baukunst.

Potsdam - Den Begriff „Sichtachse“ benutzt Olaf Thiede nicht mehr gerne. Zu abgenutzt, sagt der Potsdamer Maler und Grafiker, zu unklar: „Wenn man die Leute fragt, was ihnen dazu einfällt, dann nennen sie die Brandenburger Straße und vielleicht noch das Nauener Tor.“ Dabei hat Potsdam viel mehr solcher Sichtbeziehungen zu bieten. Blicke, die von Punkt A nach Punkt B verlaufen und das Auge mit einem markanten Ziel belohnen.

Jetzt hat Thiede, der auch für seine vielen Publikationen zur Potsdamer Baugeschichte bekannt ist, ein weiteres Buch geschrieben, das sich mit diesen Sichtbeziehungen in Potsdams Innenstadt auseinandersetzt, sie benennt und aus dem historischen Kontext heraus erklärt. Eine Sehhilfe für die, die mit wachen Augen die Bausubstanz der Stadt betrachten und erleben wollen. „Potsdam im Blick. Barocke Sichtbeziehungen der Potsdamer Innenstadt“ mit dem Untertitel „Schönheit ist kein Zufall“ wurde in einer Auflage von 2000 Stück in der Druckerei Rüss produziert. Ein handliches Taschenbuch, denn Thiede lädt ganz praktisch dazu ein, sich damit auf Stadtspaziergänge zu begeben. Auf vier Touren geht es durch 36 Straßen und Plätze, die in jeweils einem Kapitel beschrieben werden. In möglichst einfacher Sprache, sagt Thiede, es sollte nicht zu wissenschaftlich werden. Jedes Kapitel hat er mit Illustrationen ergänzt, Ansichten und Details.

Außerdem enthält das Buch historische und neue Stadtpläne, in denen die Sichtbeziehungen eingezeichnet sind, sowie das Kapitel „Die Geometrie der Stadt“. Hier wird es tatsächlich geometrisch. Thiede erklärt die mathematischen Prinzipien, nach denen in der Antike, im Mittelalter und bis in den Barock Städte auf dem Reißbrett entstanden. Dabei spielten Himmelsrichtungen, Astronomie, Religion und die Politik eine Rolle. Man berücksichtigte zum Beispiel, wann und wo die Sonne auf- oder runterging, um etwas bewusst in Szene zu setzen. Politisch motiviert waren Straßen, die auf ein unsichtbares, symbolisches Fernziel verwiesen: Potsdamer Lustgarten und Breite Straße zur Burg Tangermünde, die Charlottenstraße zur Festung Küstrin, die Berliner Straße mit Berliner Tor zur Zitadelle Spandau. Auch wenn manches viele Kilometer weit weg war: Die Richtung stimmte. „Man konnte damals mit Hilfe geometrischer Punkte wie Türmen und Rauchsäulen, mit Dreiecksbeziehungen und Sternenkarten schon sehr genau vermessen.“

Die weiteren großen Stadtstraßen wurden auf die Potsdam umgebenden Berge ausgerichtet, zum Beispiel auf Pfingstberg, Babelsberg, Reiherberg, Telegrafenberg, Kahleberg und natürlich den Brauhausberg – den Thiede heute unter dem am halben Hang hingeklatschten Schwimmbad verschwinden sieht. Diese Gestaltung des Hanges sei zu DDR-Zeiten wesentlich besser gewesen.

„Der König war in Mathematik, Kunstgeschichte und Architektur gut ausgebildet“ 

Zwischen den großen Straßen wurden schließlich die kleinen Quartiere geplant. So entstanden Zwischenfelder mit oft rechtwinklig kreuzenden Straßen. Auch hier sei nicht willkürlich gebaut worden. Am Kopfende von Straßen prangten mittig besonders schöne Häuser als Blickfang: So schaut man durch die kurze Bäckerstraße auf ein siebenachsiges Haus der Lindenstraße. Zu den Seiten ist die Straße in sieben und fünf Grundstücke eingeteilt. Das ist ein barockes kompositorisches Prinzip, bewusst geplant und eben kein Zufall, sagt Thiede, auch wenn solche Harmonie oft übersehen werde.

Auch Eckhäuser wurden gerne besonders markant gestaltet – Thiede erwähnt das Achteckenhaus in der Schwertfegerstraße – und waren, wenn stumpfe Winkel ausgefüllt werden mussten, manchmal ungleichmäßig im Grundriss. „Die wurden von der DDR gerne stehen gelassen, denn mit rechtwinkligen Plattenbauten konnte man solche Stellen nicht auffüllen.“

Dass gerade Potsdam so durchdacht erbaut wurde, liege daran, dass es eine Residenzstadt war, sagt Thiede. „Der König hatte das Sagen. Er war in der Regel in Mathematik, Kunstgeschichte und Architektur gut ausgebildet.“ Gebaut wurde vom Militär in Friedenszeiten – Bausoldaten waren keine Erfindung der Neuzeit. Der König brauchte zudem eine praktische Stadt. Der Hofstaat konnte nur funktionieren, wenn Logistik und Infrastruktur stimmten. Nicht zuletzt musste sich auch der Bürger hier zurechtfinden: Landmarken wie Türmchen, bestimmte Fassaden, Bäume, Brunnen und Berge, die heute wie zufällig platziert wirken, waren damals wichtige Orientierungspunkte für Fußgänger.

Olaf Thiede will mit seinem Buch Lust machen, die Innenstadt bewusst zu erleben. Potsdams Baudezernent Bernd Rubelt (parteilos) hat schon eins von ihm geschenkt bekommen. Thiede wünscht sich Verständnis für historische Prinzipien – und dass solche Gestaltungselemente und Regeln auch heute angewendet werden. Das Bestehende sollte gewürdigt und Neues zwar mit Feingefühl, aber auch Mut zur Gestaltung mit Form und Farbe eingefügt werden. Das ewige Weiß und die Reduzierung auf Vierecke, wie er sie in Neubauten wahrnimmt, findet er eher traurig und langweilig. Das Neue sei nämlich gar nicht per se schlecht. „Es gibt ganz hervorragende moderne Architektur.“

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Olaf Thiede: Potsdam im Blick. Barocke Sichtbeziehungen der Potsdamer Innenstadt. Schönheit ist kein Zufall. Potsdam, 2018. 99 Seiten, 14 Euro. Erhältlich in Potsdamer Buchläden.

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