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Die Potsdamer Max Schäfer, Else Vösgen, Susanne Halke (v.l.).

© Collage: PNN, Fotos: privat

Serie | Krisentagebuch: So sind die Potsdamer durch den Corona-Frühling gekommen

Wie erleben die Potsdamer die Coronakrise? Wie ändert sich ihr Alltag? Was ärgert, was freut sie? Wir haben Tagebuch geführt und 56 Menschen zu Wort kommen lassen. Ein Resümee.

Potsdam - Wissen Sie noch? Damals, als das Toilettenpapier ausverkauft war? Erinnern Sie sich noch an die mit Flatterband abgesperrten Spielplätze? An die unheimliche Ruhe auf Potsdams Straßen, mitten in der Woche? Die Warteschlagen vor dem Baumarkt? An den ersten Tag im „Homeschooling“ mit den Kindern? Die schwere Entscheidung, eine Familienfeier abzusagen? Den ersten Einkauf mit Maske?

29 Potsdamerinnen und 27 Potsdamer haben mit uns Tagebuch geführt

Dieser Frühling hat wohl jeden vor Herausforderungen gestellt, die man sich vor einem halben Jahr nicht hätte vorstellen können. Über manche Entwicklung in der Coronakrise können wir heute schon wieder lächeln. Anderes bleibt. Der Schmerz über verlorene Angehörige oder Freunde – 50 Potsdamerinnen und Potsdamer sind bislang an oder mit dem Coronavirus gestorben. Die Sorge um die Gesundheit gerade von älteren Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten. Die allgegenwärtigen Abstandsregeln. Nicht zuletzt auch die Angst um die wirtschaftliche Existenz: Mehr als 6100 Potsdamer waren Ende Mai arbeitslos – gut 1000 mehr als vor einem Jahr. Hotels, Reisebüros und Kulturschaffende zählen zu denen, die besonders zu kämpfen haben. Aber betroffen sind alle: Das Virus hat unseren Alltag verändert und wird uns noch lange begleiten.

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Seit dem 25. März haben wir in den PNN gemeinsam mit Potsdamerinnen und Potsdamern Tagebuch darüber geführt. Wie haben sie gefragt, wie sich ihr Leben verändert hat, was ihnen die meisten Schwierigkeiten bereitet, worüber sie sich ärgern, aber auch, was ihnen trotz allem Freude macht und welchen Tipp zum Umgang mit der Krise sie anderen geben. 56 Menschen – vom 17-jährigen Klimaaktivisten bis zur 92-jährigen Seniorenheimbewohnerin – sind zu Wort gekommen. Jetzt, wo Potsdam nach den Lockerungen der Corona-Verbote in eine neue Normalität mit dem Virus gefunden hat, schließen wir unser „Krisentagebuch“ vorerst ab und ziehen Bilanz.

Ute Parthum, Geschäftsführerin der Medienwerkstatt Potsdam.
Ute Parthum, Geschäftsführerin der Medienwerkstatt Potsdam.

© privat

Die Situation mit Fassung nehmen und abwarten

Wenn unsere Tagebuchschreiber eines verbindet, dann das: Sie nehmen die Situation mit Fassung. „Eine gewisse buddhistische Gelassenheit“ empfahl die Babelsberger Sozialpädagogin Lydia Poppe für das Leben im Krisenmodus. „Entspannt bleiben, hilfsbereit und freundlich, frische Luft schnappen und abwarten, bis der Spuk vorbei ist!“, riet der Pilzberater Wolfgang Bivour. Wer einen Garten oder Balkon hat, der verbringt dort viel Zeit. Ansonsten wird aufgeräumt, ausgemistet oder renoviert – das eigene Zimmer, die Wohnung oder die Jurte im Volkspark, wo „Nomadenland“-Chef Matthias Michel die Schließzeit mit Holzhacken, Handwerksarbeit und Musizieren genutzt hat: „Ich hoffe und wünsche, dass ganz viele Menschen merken, dass ein bisschen Entspannung auch etwas Gutes hat.“

Dabei war gerade in den ersten Wochen die Ungewissheit groß. Ute Parthum, die Leiterin der Medienwerkstatt, fühlte sich an große gesellschaftliche Veränderungen wie den Fall der Mauer, die Aids-Epidemie und die Klimakrise erinnert. „Nervig ist vor allem die Ungewissheit darüber, wie lange wir die augenblickliche Situation noch aushalten müssen“, gab Potsdams früherer Oberbürgermeister Jann Jakobs Ende März zu Protokoll. Die Verkäuferin Susanne Halke beschrieb panische Szenen im Supermarkt: „Die Kunden waren aufgewühlt, teils hysterisch, weil sie Angst hatten, nichts mehr kaufen zu können. Es war ein Ausverkauf wie im Weihnachtsgeschäft – nur im März.“

Potsdams Oberbürgermeister a.D. Jann Jakobs in der Coronakrise am heimischen Schreibtisch.
Potsdams Oberbürgermeister a.D. Jann Jakobs in der Coronakrise am heimischen Schreibtisch.

© privat

Bei der Umstellung auf die Arbeit oder das Lernen von zuhause ist Struktur wichtig 

An vielen Arbeitsplätzen wird in Windeseile auf Homeoffice umgestellt. Was für den Schriftsteller Sven Stricker oder den Bildhauer Marcus Golter auch sonst der Normalfall ist, darin finden sich nun viele neu, oft in Kombination mit Kinderbetreuung. Wichtig ist eine klare Struktur, lautet eine durch alle Altersgruppen gehende Erkenntnis im „Krisentagebuch“. Im Fall von Fachhochschul-Professorin Antje Michel geht das sogar soweit, dass sie den weggefallenen Arbeitsweg mit einer morgendlichen Radtour simuliert.

Die größte Herausforderung ist der fehlende direkte menschliche Kontakt. Auch wenn viele die digitalen Möglichkeiten zum Kontakthalten nutzen, vermissen sie Besuche bei Kindern, Enkeln, Großeltern, gesellige Treffen mit Freunden, gemeinsame Aktivitäten wie das Singen im Chor, ein Besuch im Restaurant oder im Kino. „Umarmungen fehlen mir sehr“, schrieb die 92-jährige Else Vösgen. „Ich würde mich am liebsten mit meinen Freunden an den Heiligen See setzen und Bier trinken oder Baden gehen. Oder einfach mal jemanden ganz fest drücken“, sagt der 17-jährige Max Schäfer.

Der Potsdamer Autor und freie Wortregisseur Sven Stricker.
Der Potsdamer Autor und freie Wortregisseur Sven Stricker.

© privat

Ärger über Rücksichtlosigkeit und Panikmache, Freude über die neue Achtsamkeit miteinander

Für Ärger sorgen rücksichtsloses Verhalten, Panikmache und Mitmenschen, die das Virus nicht ernst nehmen. Viele Tagebuchschreiber berichten aber auch von Erfahrungen, die Hoffnung machen. „Ich finde es erstaunlich, wie schnell viele Menschen umdenken und sich konstruktiv in die neue Situation einbringen, wie sie Phantasie und Improvisationstalent entwickeln“, schrieb Uta Gerlant, die Leiterin der Gedenkstätte Lindenstraße. Gerade in der Anfangszeit gab es auch etliche Beispiele einer neuen Achtsamkeit und Hilfsbereitschaft untereinander. Nicht nur wurden diverse Spenden- und Unterstützungsaktionen ins Leben gerufen, bemerkbar machte sich auch ein Wandel im Kleinen, im Umgang miteinander: Die Schriftstellerin Christine Anlauff etwa freute sich „über das freundlich-verschwörerische Lächeln, das Fremde unterwegs mit mir tauschen“.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie in Potsdam und Brandenburg finden Sie hier in unserem Newsblog.] 

Wie nachhaltig dieser Corona-Effekt in der Zeit danach ist, darüber machte sich Mathias Selbach von Kinderclub Junior des SC Potsdam Gedanken: „Ich wünsche mir, dass die Solidarität noch viel Ausdauer zeigt und kein Mensch verloren geht.“

Alle Teile unserer Serie zum Nachlesen

Teil 1: Christian Neusser (42) über kleine Freuden im Corona-Alltag

Teil 2: Bei Eszter Kalmár (44) ist bisher alles entspannt

Teil 3: Jann Jakobs (66) über nervige Ignoranten und Panikmacher

Teil 4: Jihan Alam (44) nutzt die Zeit mit ihren Töchtern

Teil 5: Ute Parthum (54) freut sich über Kulturangebote im Internet

Teil 6: Wolfgang Bivour (70) ärgert sich über Hamsterkäufer

Teil 7: Uta Gerlant (54) freut sich über Menschen mit Improvisationstalent

Teil 8: Susanne Halke (41) tut der Dank der Kunden gut

Teil 9: Julien Norman Melke (26) meistert den harten Alltag

Teil 10: Jenny Gartemann (32) hat endlich Zeit zum Planen

Teil 11: Christine Anlauff (49) entdeckt Park Sanssouci neu

Teil 12: Ariane Füchtner (53) setzt auf Hüpfen und Yoga

Teil 13: Sven Stricker (49) bleibt ruhig und freundlich

Teil 14: Susanne Fienhold Sheen (53) wünscht sich mehr Contenance

Teil 15: Matthias Michel (49) behält seinen Galgenhumor

Teil 16: Lydia Poppe (59) geht gegen Ängste vor

Teil 17: Gisela Rüdiger (72) beschäftigt sich viel im Garten

Teil 18: Mathias Selbach (43) wünscht sich Licht am Ende des Tunnels

Teil 19: Björn O. Wiede (58) fehlen die Proben mit dem Nikolaichor

Teil 20: Marie-Luise Glahr (48) hat gut zu tun

Teil 21: Renate Schmidt-Reichstein hört auf das Glockenläuten

Teil 22: Marcus Golter (54) freut sich über Selfies und Spargel

Teil 23: Mytran Xhyra (44) hofft, dass weniger gemeckert wird

Teil 24: Else Vösgen (92) fehlen Umarmungen

Teil 25: Simon Plate (33) blickt zum Himmel

Teil 26: Anna Tauschke (38) geht raus in die Natur

Teil 27: Jenne Baule-Prinz (53) hat eine Liste zum Freuen

Teil 28: Christoph Freytag (37) ärgert sich über Panikmache

Teil 29: Jan Kretzschmar (49) versucht Ruhe zu bewahren

Teil 30: Carolin Huke (33) engagiert sich vielseitig

Teil 31: Nadja von Saldern (53) übt sich in Selbstliebe

Teil 32: Julia Förster (26) kommen die Belange der Kinder zu kurz

Teil 33: Fabian Vallone (24) ruft zu Unterstützung auf

Teil 34: Erich Benesch (57) radelt in Ruhe

Teil 35: Nina Gummich (28) hat ihre letzte Gage gespendet 

Teil 36: Andrea Peters (56) freut sich, wenn es wieder losgehen kann

Teil 37: Matthias Müller (56) ist im Tiefschlaf

Teil 38: Anne Braun (34) gestaltet den Balkon opulent

Teil 39: Christine Handke (53) fehlt die Mimik

Teil 40: Claire Dörfer (43) wird nicht resignieren

Teil 41: Ludger Brands (63) steigt aufs Rennrad

Teil 42: Marianne Seibert (71) fehlt der Kontakt zu anderen Menschen

Teil 43: Thomas Drachenberg (57) bleibt gelassen

Teil 44: Jörg Schröder (60) freut sich über die kleinen Dinge des Lebens

Teil 45: Max Schäfer (17) empfiehlt, sich ein Projekt zu suchen

Teil 46: Annette Paul (49) will mehr lachen

Teil 47: Raimund Jennert (59) genießt die Pausen im Garten

Teil 48: Jaro Samuel Abraham (17) vermisst den politischen Protest

Teil 49: Antje Michel (46) simuliert ihren Arbeitsweg

Teil 50: Karin Junkel (69) bleibt gelassen

Teil 51: Werner Ruhnke (73) handelt tatkräftig

Teil 52: Herrmann A. Kremer (76) freut sich über die neue Atmosphäre

Teil 53: Daniel Vetter (39) genießt die kleinen Momente

Teil 54: Gunnar Belden (46) kann wieder mit den Kollegen Mittag essen

Teil 55: Matthias Noack (33) grüßt täglich das Murmeltier

Teil 56: Julia Ziemann (26) bringt die Tropenwelt ins Netz

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