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Gudrun Tschäpe war mit ihrem Mann bei der Gründung des Neuen Forums dabei. An die Deutsche Einheit glaubte sie da noch nicht.

© Ottmar Winter

Serie | 70 Jahre PNN - 70 Jahre Stadtgeschichte: "Das Forum wollte keine Revolution"

Sieben Zeitzeugen schildern ihre Erlebnisse in 70 Jahren Stadtgeschichte zum Jubiläum der PNN. Gudrun Tschäpe und ihr Mann Rudolf werden Ende der 80er zu "Problem-Bürgern".

Von Carsten Holm

Es ist der 11. August 1986, ein Montag. Die Lehrerin Gudrun Tschäpe und ihr Ehemann Rudolf, ein promovierter Astrophysiker, stehen mit ihren beiden Kindern vor ihrer Wohnung an der Meistersingerstraße in Potsdam-West. Sie ahnen nicht, dass Stasi-Leute sie observieren. Ein befreundetes Ehepaar gesellt sich hinzu. Klick. Aufbruch zum Schloss Cecilienhof. Klick. Ein längerer Spaziergang durch den Park. Klick. Ein Besuch der Gedenkstätte. Klick.
Der Geheimdienst hat alles im Blick, allein die Ausbeute ist gering: Die Tschäpes haben nur einen Familienausflug unternommen. Der Physiker und seine Frau stehen seit vielen Jahren unter Dauerbeobachtung, beide sind als überzeugte Christen nicht wohlgelitten. Erst drei Jahre später werden sie zu Bürgerrechtlern, die aufbegehren.

Das Ausmaß der Bespitzelung war doch überraschend

Stasi immerzu, Stasi überall. Das ist im Land bekannt. Als aber die Tschäpes nach der Wende Einsicht in ihre Akten nehmen, sind sie „überrascht vom Ausmaß der Bespitzelung”, erzählt Gudrun Tschäpe den PNN. Auf einem knappen Meter Regalbreite ist zu lesen, was „Grün 1“, neben „Panzer” einer der Decknamen für Rudolf Tschäpe, und „Grün 2“, seine Frau, vermeintlich Staatsfeindliches trieben. 

Am 30. Dezember 1981 etwa identifiziert die Stasi den Wissenschaftler als „Problem-Bürger”, weil er nicht an Wahlen teilgenommen hat. Zwei Wochen später wird er „wegen des Verdachts der politischen Untergrundarbeit bearbeitet”. Später sucht die Direktorin der Schule ihrer Kinder nach Wegen, ihnen das Studium zu verbauen.

Potsdam als Keimzelle der Bürgerrechtsbewegung? Unvorstellbar

Die eher biedere Bezirkshauptstadt, die als Residenzstadt der Preußen-Könige zu Ruhm kam, hat sich in den1980er-Jahren gewandelt. „Man konnte sich ja nicht vorstellen, dass die Stadt der Wissenschaft, der vielen Beamten, des Militärs, der SED-Bezirksleitung, der Staatssicherheit und der Stasi-Hochschule zu einer Keimzelle der Bürgerrechtsbewegung werden könnte”, sagt Tschäpe. Sie hat miterlebt, wie die DDR auch an der Havel ins Taumeln geriet und dann plötzlich und unerwartet verschied.


Die heute 81 Jahre alte pensionierte Lehrerin war dabei, als aus zaghaftem Unbehagen über den Abriss barocker Bauten und dem Erwachen der Friedensbewegung veritabler Widerstand wuchs. Ganz vorn in der Phalanx gegen die Obrigkeit stand ihr Mann Rudolf, der am örtlichen Zentralinstitut für Astrophysik arbeitete und mit seinem Institutskollegen Reinhard Meinel Mitbegründer des Neuen Forums in Potsdam war. 

Der Unmut der Potsdamer macht sich zunächst an der Baupolitik fest. „Wenn kulturhistorisch bedeutende Gebäude wie die Hiller-Brandtschen Häuser an der Breiten Straße abgerissen werden sollten, war das Stadtgespräch”, erinnert sich Tschäpe. Sie ist davon überzeugt, dass das Engagement ihres Ehemanns dazu beitrug, dass die unter der Regie von Preußen-König Friedrich II. neu erbauten Bürgerhäuser erhalten blieben. 

Die Unruhe wächst, als die Friedensbewegung sich auch in der DDR einnistet. Das Bibelzitat „Schwerter zu Pflugscharen” ist seit 1980 Symbol der Friedensinitiativen. Unter Tränen erzählen Oberstufenschüler ihrer Lehrerin am Kirchlichen Oberseminar in Hermannswerder, dass Volkspolizisten ihnen die aufgenähten Embleme von ihrer Jacke gerissen hätten. Dann die gefälschten Kommunalwahlen am 7. Mai 1989. Überrascht ist die Lehrerin, dass sie in den Tagen davor „von fremden Menschen auf der Straße gefragt” wird, „ob man alle Namen oder nur einzelne auf der Liste durchstreichen solle”. 1989, sagt sie, sei „das Jahr, in dem der Untergang der DDR besiegelt wurde”. 

Es ging dem Forum um sanfte Reformen

Am 23. August 1989 sind Tschäpe und Meinel dabei, als im Garten von Katja Havemann in Grünheide die Gründung des Neuen Forums für den 9. September vorbereitet wird. Am 19. September weist die Stadt Potsdam Rudolf Tschäpes Versuch, das Neue Forum anzumelden, brüsk ab. „Das Forum wollte doch keine Revolution”, sagt seine Frau, „es ging um sanfte Reformen.” Einen Tag lang muss ihr Mann sich im Stasi-Gefängnis an der Lindenstraße verhören lassen.
„Unsere größte Angst war, dass wir beide inhaftiert und unsere Kinder zwangsadoptiert werden”, sagt sie, „meine Mutter hat sich bereit erklärt, für die Kinder zu sorgen, Kopien der Geburtsurkunden und der Zeugnisse lagen bei ihr.”

Am 6. November 1989 berichten die BNN über Demonstrationen, auch über die in Potsdam.
Am 6. November 1989 berichten die BNN über Demonstrationen, auch über die in Potsdam.

© PNN Archiv

Auch in Potsdam begehrt das Volk auf. 3000 Bürger kommen am 4. Oktober an der Friedrichskirche in Babelsberg zusammen, einem Anlaufpunkt für Andersdenkende. Drei Tage später sind es Tausende, am 4. November schon Zehntausende, die einem Aufruf der Opposition ins Zentrum folgen. Vor der Besetzung der Stasi-Zentrale an der Hegelallee durch Regimegegner am 5. Dezember 1989 versuchen Mitglieder des Neuen Forums, das Gebäude zu schützen, damit die Geheimen keine Akten vernichten können. Allen voran Rudolf Tschäpe. Seiner Frau erzählt er, was ein hochrangiger Stasi-Offizier ihm dabei anvertraut hat. Er wisse, „worin das alles hier enden wird: in der deutschen Einheit”. 

Rudolf Tschäpe erhielt für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz 

„Ich habe das nicht geglaubt”, sagt Gudrun Tschäpe, „ich war mir sicher, dass die Sowjetunion uns niemals hergeben wird.” Nach der Wende initiiert ihr Mann die Gedenkstätte Lindenstraße und das Kunstobjekt „Nike ’89“, eine Stele an der Glienicker Brücke. Von 1990 bis 1993 gehört er der Rathaus-Fraktion Neues Forum/ARGUS an.

Tschäpe wird 1995 mit dem Bundesverdienstkreuz und fünf Jahre später mit dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung ausgezeichnet. Seit 2008 ist der Platz vor der Erlöserkirche nach ihm benannt. Am 14. April 2002 stirbt er an einer seltenen Blutkrebsart. Bürgerrechtler haben die Stasi in Verdacht, ihn im Gefängnis Lindenstraße verstrahlt zu haben. Gudrun Tschäpe sagt dazu: „Ich möchte glauben, dass es nicht so war. Ich möchte aber auch, dass niemand, der es weiß, schweigt, weil er meint, ich könnte das nicht ertragen.”

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