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Seelsorger in Potsdam: Der Tod ist ihr ständiger Begleiter

Wann immer in Potsdam ein Unglück geschieht, sind sie vor Ort: die Seelsorger der Stadt. Wie sie helfen – und was ihre Arbeit für Menschen in Ausnahmesituationen bedeutet.

Potsdam - Für die beiden Potsdamer Mädchen, 14 und 15 Jahre alt, ist es wahrscheinlich der schrecklichste Augenblick ihres jungen Lebens: Am Nachmittag des 29. September, einem Sonntag, stehen sie auf dem Oktoberfest vor dem Karussell „Playball“, als im Lustgarten vor ihren Augen etwas Furchtbares geschieht.

Es ist gegen 16.30 Uhr. Plötzlich fährt der „Playball“ an, eine 29 Jahre alte rumänische Helferin des Fahrgeschäfts, die noch auf der Plattform steht, wird in die Tiefe geschleudert. Ihr Körper schlägt zwei, vielleicht drei Meter neben den beiden Schülerinnen auf den Asphalt, das Geräusch ist bis in die nächsten Rummel-Buden zu hören. Die Rumänin stirbt noch an der Unfallstelle, ihr Freund, der ebenfalls dort arbeitet, erlebt alles mit. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, wie die PNN berichteten, wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung gegen eine Mitarbeiterin, die das Karussell gesteuert haben soll.

"Erste Hilfe für die Seele"

Niemand weiß, was in diesem Moment in den beiden Mädchen vor sich geht. Niemand kann voraussagen, wie sie und andere Augenzeugen das Geschehen verarbeiten werden. Wann immer Menschen ins Taumeln geraten, die unvermittelt mit dem Tod konfrontiert werden, steht auch in Potsdam ein Team von 15 ehrenamtlichen Notfall-Seelsorgern bereit, um sie zu stützen. Es wird von der Leitstelle der Feuerwehr alarmiert, und es ist schnell vor Ort.

An jenem Sonntag dauert es nicht einmal eine halbe Stunde, bis die Potsdamer Schulpsychologin Kati Bromberg, 41, und Sabine Elsemann, 61, die in der Landeshauptstadt eine psychologische Praxis unterhält, am Lustgarten eintreffen. Sie arbeiten für die Seelsorge, ein bundesweites Netzwerk. „Was wir tun“, sagt Elsemann, „ist Erste Hilfe für die Seele“.

Schnell wird im Lustgarten klar, dass wegen der Zahl der Augenzeugen ein erheblicher Betreuungsbedarf besteht. Es ist ein Feiertag, doch in kurzer Zeit eilen fünf weitere Seelsorger hinzu. Zu ihnen zählt Jörg Reichert, 52, Teamleiter der Potsdamer und im Hauptberuf Ausbilder der Notfallsanitäter bei der Berufsfeuerwehr. Die Mitglieder des Teams kommen aus psychosozialen Berufen oder sind Angestellte von Kirchen, sie verdienen ihr Geld etwa als Psychologen oder Rettungssanitäter. Für ihr Ehrenamt bekommen sie 100 Euro im Jahr.

Angehörige werden vorbereitet

Die Frauen und Männer wurden in 80 Lehrgangsstunden geschult, sie haben viele Jahre Erfahrung. In ihren lilafarbenen Einsatzjacken mit der Aufschrift Krisen-Intervention betreuen sie elf Betroffene. Bald kommen Eltern hinzu, die Teenager haben sie angerufen. Die beiden Mädchen, die die sterbende Rumänin aus der Nähe gesehen haben, sind stabil, sie beschreiben klar, was passiert ist.

Die Notfallseelsorger bereiten die Eltern darauf vor, was in den nächsten Tagen passieren kann: Völliger Rückzug, apathisches Herumliegen vor dem Fernseher, Appetitlosigkeit oder ein großes Redebedürfnis und ständige Anspannung wie vor einer Prüfung. „Es gibt eine große Bandbreite bei der Reaktion auf akute Belastungsstörungen“, sagt Elsemann. „Wenn Eltern das wissen, nimmt es ihnen etwas Angst.“ Denn: „Je jünger die Betroffenen sind, umso gravierender kann die Notfallreaktion ausfallen.“

Den Krisen-Fachleuten hilft an diesem Nachmittag, dass das nahe Mercure-Hotel ihnen einen Raum für Gespräche zur Verfügung stellt. Eine Rückzugsmöglichkeit, die wohliger ist als ein VW-Bus der Feuerwehr. Das Hotel bietet Getränke und Speisen an. Der Freund der verunglückten Rumänin, ein Landsmann, ist dabei, ein Dolmetscher übersetzt.

Es gibt auch Menschen, die den Unglücksort schnell verlassen. Für sie hat die Feuerwehr eine Hotline eingerichtet. Noch am selben Abend sucht Teamleiter Reichert die Eltern von zwei Jugendlichen auf, auch in den nächsten Tagen melden sich einige Oktoberfest-Besucher. Notfallseelsorger begleiten oder vermitteln sie zur Potsdamer Trauma-Ambulanz, sie sind auch dabei, wenn sie Zeugenaussagen bei der Polizei machen.

"Am Schlimmsten ist es, wenn Kinder beteilig sind"

Es macht wenig Sinn, eine Hierarchie der furchtbarsten Stunden zu entwerfen, die manche Menschen durchstehen müssen – und doch blicken die Krisen-Interventionsspezialisten oft genug in tiefe Abgründe, die kaum auszuhalten scheinen. Sie werden alljährlich zu rund 50 Einsätzen gerufen, Verkehrsunfälle oder andere Unglücke mit tödlichem Ausgang sind der kleinste Teil. „Es geht zumeist um die sogenannten häuslichen Katastrophen“, sagt Teamleiter Reichert, „Suizid, gescheiterte Reanimationsversuche nach einem Herzinfarkt, plötzlicher Kindstod“.

„Alle Einsätze sind schlimm, aber am Schlimmsten ist es, wenn Kinder beteiligt sind“, erzählt seine Kollegin Elsemann. Sie hat vor ein paar Jahren in einer Potsdamer Klinik mehr als sieben Stunden einem Ehepaar beigestanden, deren fünf Wochen altes Baby plötzlich gestorben war. Solche Fälle sind selten: Etwa 130 von rund 670.000 Kindern eines Jahrgangs sterben im ersten Lebensjahr, oft bleibt die Ursache verborgen. „Jeder Einzelfall ist für die Eltern eine unendliche Katastrophe“, sagt Elsemann. „Niemand begrenzt die Zeit, die wir mit Betroffenen verbringen. Ich ging, als die Geräte abgeschaltet worden waren.“

Man muss zuhören können

Kann man sich auf der Fahrt zu einem Einsatz gedanklich vorbereiten? „Das muss man nicht einmal“, sagt die Traumatherapeutin. „Die Menschen, die wir aufsuchen, geben vor, was sie brauchen. Manche sprechen drei Stunden kein Wort, das muss man aushalten können. Andere reden sehr viel, fast ohne Pause. Da muss man zuhören können.“

Suizid ist ein gesellschaftliches Tabu, obwohl sich in Deutschland etwa dreimal mehr Menschen umbringen, als bei Verkehrsunfällen sterben. 2017 gab es laut Statistischem Bundesamt 9241 Selbstmorde und 3275 Verkehrstote. Auch diese Einsätze sind eine große Herausforderung. So wurde ein Potsdamer Kriseninterventions-Team mit der Polizei in die Wohnung einer Frau gerufen, deren erwachsener Sohn sich an einer Trimmstange erhängt hatte. Rettungssanitäter waren als Erste dort und hatten den Leichnam auf den Boden des Wohnzimmers gelegt. Vor lauter Schmerz verlor die Mutter völlig die Kontrolle und trat gegen einen Schrank. Aber es gelang den Helfern, sie zu beruhigen. Die Mutter, Teamchef Reichert und eine Kollegin setzten sich neben den Toten und warteten bei Kerzenlicht lange Zeit. Dann kamen Kriminalbeamte, um den Toten in Augenschein zu nehmen. Ein Bestatter nahm ihn mit.

Als „befremdlich“ hat Reichert die Arbeit von Journalisten erlebt. Er hatte eine Potsdamerin aufgesucht, deren Lebenspartner, ein Geldbote, bei einem Raubüberfall in Berlin erschossen worden war. Stundenlang versuchte er, Trost zu spenden. Immer wieder bedrückte ein Blick durch die Gardine des Küchenfensters die todtraurige Frau aufs Neue: Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stand eine Armada von Fotografen. „So etwas“, sagt der Teamleiter, „ist für Angehörige fürchterlich.“ Er verließ das Haus mit der Frau durch einen Hintereingang und brachte sie zu einer engen Freundin.

Niemals eine Todesnachricht am Telefon

Es gehört zum Alltag seines Teams, mit Polizisten die Nachricht von einem tödlichen Unfall zu überbringen. Jedes Mal erleben die Seelsorger mit, wie der Tod ein Loch in das Leben der Angehörigen reißt. Er ist ihr ständiger Begleiter. Den meisten Krimi-Zuschauern ist diese Situation vertraut. Ein Polizist klingelt an einer Tür und sagt: „Ich muss Ihnen eine traurige Nachricht überbringen.“ Vielleicht auch: „Sie müssen jetzt ganz stark sein.“

Teamchef Reichert lacht das einzige Mal in diesem langen Gespräch und schüttelt den Kopf: „Ach, das ist Fernsehen. Unsere Grundregeln: Niemals eine Todesnachricht am Telefon und niemals an der Haustür.“ Der Polizeibeamte, der die Nachricht überbringe, weil dies eine hoheitliche Aufgabe sei, frage: „Dürfen wir bitte hereinkommen? Wir müssen mit Ihnen sprechen.“ Die meisten Menschen, so Reichert, „sind völlig ahnungslos, wenn wir klingeln.“ Der Polizist geht bald, der Seelsorger bleibt – solange, wie es dem Betroffenen guttut.

Training gehört dazu

Mit Rollenspielen bereiten sich die Krisen-Interventionisten auf diese häufige Einsatzlage vor. Bei der Ausbildung im Kulturhaus „Alte Brücker Post“ in Brück (Potsdam-Mittelmark) mieten sie dafür Ferienwohnungen an. Ein Paar sitzt im Wohnzimmer, es klingelt. Ein Polizisten-Double  und ein angehender Seelsorger stehen vor der Tür und bitten um Einlass. Die nächste Grundregel, sagt Reichert: „Wir achten darauf, dass die Betroffenen sitzen, wenn wir sie informieren.“

Auch wenn in Brück einmal eine Straße gesperrt wird und etliche Einsatzfahrzeuge von Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften umherstehen, kann es sich um eine Trainingseinheit der Seelsorge handeln. „Unser Einsatz bei Verkehrsunfällen soll realitätsnah einstudiert werden. Wir üben Alltag“, so Reichert.

Was treibt Notfall-Seelsorger dazu an, sich Tag und Nacht für so belastende Einsätze bereitzuhalten? „Wir werden manchmal gefragt, warum wir uns das antun“, sagt Elsemann. „Ich habe zwei Antworten: Ich selbst möchte nicht allein sein, wenn ich in eine so extreme Situation komme. Außerdem ist es für mich sehr sinngebend, anderen Menschen helfen zu können.“ Und dann fügt sie noch einen Satz hinzu: „Es ist wichtig, dass es von Herzen kommt.“

Hier finden Betroffene Hilfe
Wer in akuter seelischer Not ist, kann die Leitstelle der Potsdamer Berufsfeuerwehr unter der Nummer 112 anrufen. Sie alarmiert die Teams der psychosozialen Notfall-Seelsorge.

Beratung am Telefon bietet die Potsdamer Telefon-Seelsorge 24 Stunden täglich anonym und vertraulich an, unter Tel.: (0331) 97931920, gebührenfrei unter (0800) 1110111 oder (0800) 1110222.

Wer Opfer einer Gewalttat geworden ist, dem kann die Traumaambulanz des Vereins Opferhilfe Land Brandenburg zur Seite stehen, erreichbar unter Tel.: (0331) 2802725.

Vergewaltigungsopfern wird in der Klinik für Gynäkologie im Ernst von Bergmann Klinikum geholfen. Die Notaufnahme ist unter Tel.: (0331) 2415051, die Gynäkologie unter Tel.: (0331) 24135637 erreichbar.

Carsten Holm

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