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Gefühlvoll. Philipp (Matthias Freihof) und Matthias (Dirk Kummer) entdecken ihre Liebe. Genial: Michael Gwisdek als schwuler Barkeeper.

© Progress/Wolfgang Fritsche

Landeshauptstadt: Schwulsein in der DDR

Seit 1912 wird in Babelsberg Kino gemacht. Die PNN haben zum Potsdamer „Jahr des Films“ zwölf wichtige Babelsberg-Filme ausgewählt und erzählen ihre Geschichten: Meilensteine auf dem Weg von der Wiege des deutschen Films zum Hollywood der Republik. Heute Teil 9: Coming Out

Den Film „Coming Out“ sollte es gar nicht geben. „Nur über meine Leiche“, hatte Defa-Generaldirektor Hans Dieter Mäde erklärt, erinnert sich Evelyn Carow, Frau des 1997 verstorbenen Regisseurs Heiner Carow und selbst Schnittmeisterin bei über 70 Defa-Filmen. Doch „Heiner ging dann gleich zu Hager“, zu Kurt Hager, dem DDR-Chefideologen im SED-Politbüro, der dann „per ordre du mufti“ von oben herab den Dreh anordnete. Auf Mädes Leiche konnte indes verzichtet werden.

Heiner Carow. Für Schauspieler Matthias Freihof war er „einer der besten, wenn nicht der beste Regisseur im Osten“. Lieben und Leben der einfachen Leute war sein Thema. Schon die Paula in der legendären „Legende von Paul und Paula“ von 1973 war eine einfache Verkäuferin. Auch dieser Film, dann mit über drei Millionen Zuschauern ein Kassenschlager, bedurfte erst der persönlichen Freigabe durch SED-Chef Erich Honecker, um überhaupt gezeigt werden zu dürfen. Doch nach „Bis daß der Tod euch scheidet“, der 1979 das sozialistische Ehe-Ideal aufs Korn nahm, war von Heiner Carow nicht mehr viel zu sehen. „Sie hatten ihn stillgelegt“, wie es seine Frau heute formuliert: „Die wussten, wie Heiner Filme macht. Die hatten immer Angst vor ihm. Er war ihnen zu kritisch.“ Auch „Paule Panke“ scheiterte – eine zusammen mit Rolf Richter und der Band Pankow geschrieben Rockoper – und das nicht nur, weil darin ein unsympathischer DDR-Politiker vorkam, sondern auch eine schwule Nebenfigur.

Homosexualität wurde in der DDR nie offen thematisiert. Doch 1987, im Zuge der Aids-Aufklärung, ging es plötzlich los, erinnert sich Evelyn Carow. In jedem Magazin habe gestanden, „dass das keine Krankheit ist“. Schon lange vorher kannte Carow das von Wolfram Witt geschriebene Drehbuch zu „Coming Out“. Und nachdem der Regisseur das Thema Homosexualität in „Paule Panke“ schon angerissen hatte, riet ihm seine Frau nun: „Dann mach’s doch gleich richtig.“

Der Film ist im Progress-Verleih, die DVD bei Icestorm erschienen.

Die Dreharbeiten begannen im Oktober 1988. Die letzten Szenen waren erst im Mai 1989 im Kasten. „Paradiesische Zustände“ sind das gewesen, erinnert sich Matthias Freihof: „Das kann sich heute kein Regisseur mehr erlauben.“ Drehbuchautor Witt hatte ihn damals in Frankfurt (Oder) auf der Bühne gesehen und Heiner Carow einen Tipp gegeben. Er war der erste, den Carow zu Probeaufnahmen für seinen Hauptdarsteller einlud. Dass Freihof schwul ist, war Carow egal. Es ging ihm um darstellerische Professionalität. Freihof: „Dafür sind wir ja Schauspieler.“

Im engeren Sinne porträtiert „Coming Out“ den Lehrer Philipp (Matthias Freihof), der sich in den jungen Matthias (Dirk Kummer) verliebt, sein Schwulsein entdeckt, sich dazu bekennt und seine Freundin Tanja (Dagmar Manzel) frustriert zurücklässt. Doch der Film geht weit über die Homosexuellen-Thematik hinaus. Er ist kein Film „aus dem Ghetto für das Ghetto, wie viele dieser Filme zu der Thematik“. Für Matthias Freihof ist es vielmehr „ein unglaubliches Stück Zeitgeschichte“. Er vermittele „viel von dem Lebensgefühl Ende der 1980er Jahre in Ost-Berlin“. Da ist ein Lehrer, der seine Schüler zu selbstständigem Denken aufruft. Und das in einer DDR, in der Lehrer Sender und Schüler Empfänger vorgekauter politischer Wahrheiten zu sein hatten. Da sind große Schlangen von Wartenden vor dem Konzertsaal am Gendarmenmarkt zu sehen, wobei die filmische Darstellung von Waren- und Dienstleistungs-Knappheit in der DDR per se hochpolitisch war, wenn es sich in diesem Fall auch nur um die Knappheit begehrter Karten für ein Klassikkonzert handelte. Da sind Neonazis, die einen Schwulen in der S-Bahn verprügeln. Nazis in der DDR, in dem Land, dass sich als grundsätzlich antifaschistisch verstand? Das durfte nicht sein und wurde Evelyn Carow zufolge versuchsweise „totgeschwiegen“. Die Filmszene mit den Neonazis in der S-Bahn endet mit einer Sequenz auf dem Marx-Engels-Platz, wie überdeutlich zu lesen ist – mit Chefideologe Hager als Rückendeckung demütigte Carow seine Zensoren.

„Coming Out“ wurde nicht nur der erste Film über Homosexualität in der DDR, sondern auch über latente Fremdenfeindlichkeit. Er selbst ist in der DDR zwar nie angefeindet worden, erzählt Matthias Freihof. Sehr wohl aber Freunde von ihm, die von Nazi-Übergriffen am Märchenbrunnen im Friedrichshain berichteten, dem Treffpunkt Schwuler in Ost-Berlin und einem der Drehorte von „Coming Out“. Dem Schauspieler zufolge hat es Versuche seitens des S-Bahn-Chefs gegeben, die Übergriffs-Szene in der S-Bahn aus dem Film schneiden zu lassen. Auch der Direktor des Konzerthauses auf dem Gendarmenmarkt beschwerte sich wegen der Warteschlangen.

Nicht zuletzt ist „Coming Out“ in bester Heiner-Carow-Manier „ein richtig schöner Liebesfilm“, wie die Defa-Chefs bei der Abnahmevorführung begeistert und vor allem erleichtert ausriefen. Was hatten die denn erwartet? Evelyn Carow: „Das zeigt doch, wie verklemmt und ängstlich alle doch waren!“ Darum: „Das Thema war reif!“

Für Matthias Freihof zeigt der Film „eine Liebesgeschichte, die berührt und immer noch funktioniert“. Tatsächlich ist es Freihof und Kummer gelungen, die entstehende Anziehung zwischen ihren Figuren knisternd darzustellen. Selbst in der Sexszene, berichteten ihm viele Zuschauer, bleibt es unerheblich, „ob da zwei Männer liegen oder ein Mann und eine Frau“, sagt Matthias Freihof. Der Film zeige Probleme auf, „die jeder kennt“. Freihof: „Es ist für jeden schwer, sich zu seiner Sexualität zu bekennen.“

Weil eine „Intellektuellenbude“ gebraucht wurde, entstanden Szenen in der Wohnung des damaligen Babelsberger Filmhochschulrektors und späteren Linkspartei-Vorsitzenden Lothar Bisky. Biskys Sohn Norbert, heute ein hochgerühmter Maler, „erzählte mir einmal, dass er auf seinen jüngeren Bruder aufpassen musste, damit der die Klappe hält, während wir drehen“, berichtet Matthias Freihof.

Der 1961 in Plauen geborene Schauspieler hat die Idee, irgendwann eine Fortsetzung von „Coming Out“ zu drehen und dabei auch Filmszenen zu verwenden, die beim Schnitt 1989 aussortiert wurden. Doch Evelyn Carow bedauert. Der Streifen habe sich „wie Butter geschnitten“, weil mit dem Filmmaterial damals sehr sparsam umgegangen werden musste, da „Coming Out“auf Eastman Kodak statt auf Orwo aus DDR-Produktion gedreht wurde. Filmreste seien oft zu Übungszwecken an die Filmhochschule gegangen. Sie könne sich aber nicht erinnern, größere Szenen „nicht reingenommen zu haben“ – im Gegensatz zu Konrad-Wolf-Filmen, aus denen sie bisweilen 800 Meter habe rausschneiden müssen. Dennoch habe ihr Konrad Wolf einmal gesagt: „Ihr Schnitt hat mir nie wehgetan.“

Der Schnitt von „Coming Out“ wird auch von Matthias Freihof gelobt: Durch Evelyn Carows Wirken sei der Film sehr gut konzentriert, verknappt und überflüssige Nebenhandlungen weggelassen worden. Evelyn Carow erinnert sich, dass die Mitarbeiter der 26 Defa-Schnitträume lange Zeit als „technisches Personal“ angesehen wurden, „bis die begriffen, was Schnitt bedeutet“. Aus ein und demselben Filmmaterial kann man „durchaus zwei völlig verschiedene Filme machen“.

Seither oft beschrieben wurde der Premierenabend von „Coming Out“ am 9. November 1989 im Kino International in Ost-Berlin und die anschließende Premierenfeier in der Bar „Zum Burgfrieden“ in der Wichertstraße 69, die es heute nicht mehr gibt. Evelyn Carow erinnert sich: Michael Gwisdek, für den die Rolle eines schwulen Barkeepers augenscheinlich ein schauspielerisches Festessen war, kam irgendwann reingeplatzt und rief: „Kinder, die Mauer ist offen.“ Keiner wollte ihm glauben – bis draußen die Trabi-Karawanen Richtung Bornholmer Brücke vorbeirollten. Spät in der Nacht kam einer und stellte eine Büchse Schultheiß-Pils, gekauft am Ku’damm, auf den Tresen des „Burgfrieden“. Matthias Freihof hörte die Weltnachricht zuerst von seiner Kollegin Dagmar Manzel. Seine Reaktion: „Träum weiter, Schätzchen.“ Zusammen mit einem Freund ging Freihof später zur Bornholmer Brücke, wo ein ihm vollkommen Fremder ein Foto von den beiden machte, mit sehr langer Belichtungszeit. Tatsächlich fand Freihof später einen Brief mit einem Abzug in seinem Briefkasten. Das Foto von der Bornholmer Brücke in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 hängt heute über seinem Schreibtisch. 1990 erhielt „Coming Out“ auf der Berlinale den Silbernen Bären. Seine Wirkung sei aber durch den Mauerfall „etwas verpufft“, findet Evelyn Carow. Dem muss widersprochen werden: Auch für Heteros war „Coming Out“ 1989 alles andere als ein gewöhnlicher Defa-Film, sondern ein cineastisches Zeichen für den gesellschaftlichen Aufbruch.

Out ist „Coming Out“ heute keineswegs. Erst Anfang 2011 war Matthias Freihof mit dem Film in Nowosibirsk. Es war das erste Mal, dass der Film in Sibirien zu sehen war, organisiert vom Goethe-Institut. 2010 war der Film bereits in St. Petersburg gezeigt worden. Die Situation der Homosexuellen ist in Russland „schlimmer als sie in der DDR je war“, findet Freihof. Die russisch-orthodoxe Kirche habe sich gebärdet, „als brächten wir die Sodomie nach Sibirien“.

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