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Bunte Fassade. Schüler, die früher im Internat der Potsdamer Sportschule gewohnt haben, berichten über einen Alltag, in dem Mobbing und Gewalt keine Einzelfälle waren.

© M. Thomas

Landeshauptstadt: „Schweinebauch“-Rituale im Sportlerwohnheim

Im Internat der Elite-Sportschule „Friedrich Ludwig Jahn“ gibt es offenbar seit Jahren Fälle von Gewalt

Es sind Worte voll des Lobes: „Ein Blick zurück verrät, dass Hunderte von Schülern die Zeit am Luftschiffhafen als beste Zeit ihres Lebens sehen.“ Geschrieben haben das Schüler der Potsdamer Elite-Sportschule „Friedrich Ludwig Jahn“. Mit einem gemeinsamen Brief haben sie auf die jüngsten Vorfälle im Sportinternat reagiert. Vor drei Wochen war bekannt geworden, dass die Staatsanwaltschaft gegen zwei Elftklässler der Schule wegen des Verdachts der sexuellen Nötigung ermittelt.

Andere ehemalige Schüler aber haben weniger gute Erinnerungen an ihre Zeit am Campus Luftschiffhafen. Einer davon ist Marcel Schmidt (*Name von der Redaktion geändert). Vier Jahre war er da, bis 2008. „Erschreckend“ findet er noch heute die Tatsache, dass „man es als normal angesehen hat, dass Gewalt unter Schülern zum Alltag gehört.“ Dabei hätte auch Schmidt vor drei Jahren noch geschrieben, dass die Zeit am Internat zu der besten in seinem Leben zählt. „Die Bedingungen für die Sportler und der Unterricht waren ja auch wirklich gut.“ Problematisch sei es aber im Internat geworden.

Über das Leben im Wohnheim der Elite-Sportschule gibt es also offenkundig zwei Wahrheiten – Wahrnehmungen zwischen Sportlerparadies und Albtraum.

Das Wohnheim: 14 Etagen. 400 Plätze, vornehmlich Zwei-Bett-Zimmer. Die Bewohner von zwei bis drei Zimmern teilen sich einen Wasch- und Toilettenraum. Pro Etage sind so rund 30 Schüler unterschiedlichen Alters untergebracht, zuständig sind jeweils zwei Erzieher, vor allem Frauen, die im Schichtsystem arbeiten. „Diese alten Damen sind mit den Jugendlichen gnadenlos überfordert“, sagt Marcel Schmidt. Es fehle jedes Gespür im Umgang mit Teenagern. Ein Grund dafür könnte nach PNN-Informationen sein, dass mehrere dieser Erzieherinnen früher in Potsdamer Kitas gearbeitet haben. Als das Rathaus die städtischen Kindertagesstätten privatisierte, mussten Kita-Mitarbeiter anderswo eingesetzt werden – etwa im Wohnheim. Offiziell äußert sich das Rathaus dazu nicht, hieß es auf Anfrage.

Die Folgen aus Sicht von Marcel Schmidt: Pädagogische Ansprechpartner gebe es für die Schüler nicht. Konflikte müssten untereinander geklärt werden. Es entstünden Hierarchien, basierend auf körperlicher Stärke. Das fange bei der Auswahl des Fernsehprogramms im Gemeinschaftsraum an – und ende etwa beim sogenannten „Schweinebauch“-Ritual: Würden sich aus der Sicht älterer Schüler Jüngere „danebenbenehmen“, „keinen Respekt zollen“, könnte ihnen unangenehmer Besuch drohen: Jugendliche würden in ihr Zimmer eindringen, sie am Bett festhalten, den Bauch frei machen und mit der flachen Hand solange schlagen, bis die Haut brennt und zwiebelt. „Die Älteren wollen sich Respekt verschaffen. Und für Kadersportler gab es sowieso eine Art Freifahrtschein, die konnten sich viel mehr erlauben.“ Marcel Schmidt selbst hat erlebt, wie Ältere mitten in der Nacht in seinen Raum stürmten und mit Schneebällen seinen Zimmergenossen das Gesicht einseiften. Auch kennt er die Geschichten, dass jüngere Schüler mit dem Kopf nach unten aus Fenstern gehängt wurden, bis sie vor Angst in die Hose machten. „Doch über so etwas hätten wir mit Erziehern oder Lehrern nie gesprochen.“ Ein anderer Schüler, der gemobbt wurde, habe regelmäßig eine mit Schnaps gefüllte Iso-Flasche dabeigehabt. Später sei er von der Schule gegangen – zu groß war der Druck aus Schulstress, dem Erbringen sportlicher Höchstleistungen und der Hetze anderer Schüler.

Doch warum hat niemand etwas gesagt? Marcel Schmidt meint, unter allen Schülern herrsche die unausgesprochene Übereinkunft, „solche Sachen unter sich zu klären: Wer jemanden verpfeift, muss mit Sanktionen rechnen.“ Zwar gebe es wohl an anderen Internaten auch Probleme – am Luftschiffhafen würden sie aber durch das Fehlen echter Pädagogen noch verschärft. Tatsächlich kam erst im Sommer eine Studie des Deutschen Jugendinstituts zum Thema sexueller Missbrauch zu dem Ergebnis, dass allein 40 von 100 untersuchten Internaten in den vergangenen drei Jahren mit verschiedenen Verdachtsfällen zu sexueller Gewalt konfrontiert waren – vielfach unter Jugendlichen.

In Potsdam komme erschwerend hinzu, schätzt Marcel Schmidt ein, dass die Eliteschule selbst zwar immer die Erfolge von Schülern thematisiere – „mehr wird aber nicht angesprochen.“ So seien die Kinder auf sich allein gestellt. „Leute, die etwas zurückhaltender sind, kann dieses System schädigen“, sagt Schmidt.

Die Erinnerungen von Marcel Schmidt ähneln anderen Erzählungen. Zuletzt hatte der Chef der Jungen Union Potsdam, selbst früher an der Eliteschule, öffentlich erklärt, Mobbing und gewalttätige Übergriffe in dem Internat seien „schon lange an der Tagesordnung“ gewesen – und sie seien toleriert worden.

Diesen Vorwurf stützt Dirk S.: Auch er will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, weil er Freunde in seiner ehemaligen Schule schützen will. Er beschreibt nicht nur ein „System, das auf Angst aufbaut“ – sondern auch Probleme von Mitschülern mit Alkohol, Haschisch, Schmerz- und Aufputschmitteln. Vom Selbstmordversuch eines Schülers, der sich bei einem Besuch in seiner Heimat das Leben nehmen wollte, hätten seine Mitschüler erst nach Wochen erfahren. Dirk S. erzählt auch, dass er sich mehrfach an Erzieher gewandt habe – doch seien seine Sorgen nie ernst genommen worden.

Inzwischen ist manches anders. Nach Bekanntwerden der Missbrauchsvorwürfe sind die Heimleitung und einzelne Erzieher suspendiert worden. Grund: Die mutmaßlichen Opfer des Übergriffs sollen sich mit Bitte um Hilfe an Erzieher gewandt haben, diese aber meldeten den Vorfall nicht weiter. Nun soll eine neue Führungsspitze mit Hilfe eines anerkannten Jugendhilfe-Trägers die Mitarbeiter im Heim für ihre Arbeit stärker sensibilisieren. Dagegen kann ein vom Dienst freigestellter Landestrainer, der angeblich auch den Missbrauchsvorwurf nicht gemeldet haben soll, inzwischen wieder arbeiten. Die beiden tatverdächtigen Schüler können wieder an der Schule lernen, interne Konsequenzen soll es aber geben. Die Schule hat zudem verstärkte „Werteerziehung“ angekündigt. Zugleich ist unter Tel.: (0160) 99 85 61 42 eine unabhängige Hotline eingerichtet worden, bei der sich womöglich geschädigte Jugendliche melden können. Dirk S. und Marcel Schmidt allerdings glauben nicht, dass ein Anruf von ihnen etwas ändern würde. Dirk S. sagt: „Wirkliche Beweise für meine Erlebnisse gibt es leider nicht – schon deshalb, weil an der Sportschule und im Heim fast alles mündlich kommuniziert wird.“

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