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Die Schaustellerfamilie um Vater Enrico, die Kinder Mex, Jayden und Samjel sowie Mutter Jennifer und Großmutter Yvonne.

© Andreas Klaer

Schaustellerfamilie Slepitschka macht Halt in Potsdam: Ein Leben auf Achse

Familie Slepitschka ist zehn Monate im Jahr unterwegs. Wenn im Lustgarten Rummel ist, lebt sie in der Landeshauptstadt - und die Kinder gehen dort auch zur Schule.

Von Carsten Holm

Potsdam - Draußen, nur ein paar Meter vom Wohnanhänger der Slepitschkas auf dem Potsdamer Rummel entfernt, herrscht von zwei Uhr nachmittags bis abends um Zehn pure Lebenslust: laute Musik, kreischende Jugendliche, Knallerei an den Schießbuden und dazu der Duft von Bratwurst und gebrannten Mandeln an den Futterbuden.

Drinnen aber, in der großen Wohnküche der Slepitschkas, ist Ruhe angesagt. Der elf Jahre alte Jayden, ein Fünftklässler, und sein drei Jahre jüngerer Bruder Samjel, der in die dritte Klasse geht, sitzen am Tisch und büffeln. Sie müssen Hausaufgaben erledigen, die sie in der nahen Rosa-Luxemburg-Grundschule an der Burgstraße bekommen haben. Sie haben sich die Bohnensuppe schmecken lassen, die ihre Großmutter Yvonne Bereit zubereitet hat. Ihr quirliger, drei Jahre alter Bruder Mex sieht ihnen zu.

Immer mal wieder sind die Slepitschkas Potsdamer auf Zeit. Dann nämlich, wenn im Frühjahr im Lustgarten Rummel ist. Sie sind eine Schaustellerfamilie – und somit den größten Teil des Jahres unterwegs. Sich permanent vorübergehend an anderen Orten niederzulassen, ist für sie Normalität. Wie ist das, ein Leben auf Wanderschaft zu führen?

In der Wohnküche spielt sich das Familienleben ab

Die Zeit, die sie in ihrer Wohnküche verbringen, ist der Teil des Familienlebens, der sich kaum unterscheidet von dem der meisten Potsdamer Einheimischen. Die komplett ausgestattete, gut 20 Quadratmeter große Wohnküche ist ihr zentraler Ort, hier wird gefrühstückt, zu Mittag und zu Abend gegessen und gepaukt. 

Morgens kommen gelegentlich befreundete Rummelleute auf einen Kaffee vorbei, die 18 Familien, die jetzt auf dem Platz leben, kennen sich, einige halten auch Kontakt miteinander, wenn sie wieder in alle Himmelsrichtungen zu neuen Plätzen ausschwärmen. „Wir haben ein großes Gemeinschaftsgefühl“, sagt Enrico Slepitschka, der Vater der Familie. Und wenn die Stimmung mit den Nachbarn mal nicht so gut ist? „Wir haben, außer in Potsdam, ja jede Woche neue Nachbarn.“

Im Frühjahr ist die Familie regelmäßig in Potsdam und betreibt den King Kong Tower. 
Im Frühjahr ist die Familie regelmäßig in Potsdam und betreibt den King Kong Tower. 

© Andreas Klaer

Die Eltern übernachten mit dem Jüngsten im gut sechs Quadratmeter großen Schlafzimmer des Hängers, die älteren Jungen und deren Großmutter ziehen sich in ihre eigenen Wohnwagen zurück. Erst sehr spät, nach getaner Arbeit, setzen sich die Eltern gelegentlich zusammen, um ein Glas Wein zu trinken.

Kinder besuchen jährlich 25 Schulen

Die 36 Jahre alte Jennifer Slepitschka hat ihre beiden älteren Söhne für die 24 Tage, die sie in Potsdam sind, in der Rosa-Luxemburg-Schule angemeldet. Sie lernen während der rummelfreien Wintersaison an der Schule ihres Heimatortes Seyda im sachsen-anhaltischen Landkreis Wittenberg, während der zumeist zehnmonatigen Reisesaison besuchen sie Schulen dort, wo ihre Eltern gastieren.

Großes Anpassungsvermögen ist gefragt. „Übers Jahr gesehen sind das 25 Schulen“, sagt Enrico Slepitschka, „nur für Mex, unseren Jüngsten, ist es noch zu früh, sich in einer Kita ständig in eine neue Umgebung einzuleben.“ Außer bei langen Aufenthalten wie in Potsdam gilt die Regel: Dienstags bis freitags ist Schule, montags ist Reisetag.

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Die Jungen vom Rummel werden gemocht. Jayden war stolz, als ihn gleich zu Beginn seine ganze Klasse auf dem Rummel besuchte. Er zeigte ihnen den King Kong Tower am Eingang, ein Freifallturm, den seine Eltern betreiben. Es gab Freitickets, die Schüler ließen sich hochschießen und heruntersausen.

Auf der Rosa-Luxemburg-Schule sind die Jungen der Slepitschkas nun schon zum dritten Mal. Von ihrer Stammschule in Seyda bekommen beide einen Lehrplan für die Reise, im Schultagebuch, einem amtlichen Dokument, werden alle Anwesenheitstage aufgelistet. Am Ende des Besuchs faxen die Schulen einen Leistungsbericht nach Seyda. Mutter Jennifer, die einst Gymnasiastin mit guten Noten war, dann aber die Schule verließ, um mit ihren Schausteller-Eltern durch die Lande zu ziehen, freut sich: „Jayden, unser Ältester, ist ein guter Schüler, Samjel sogar ein sehr guter.“

„Wir sind mehr und mehr ein geachteter Bestandteil der Gesellschaft geworden“

Die Zeiten haben sich geändert, das Ansehen der vor Jahrzehnten mitunter mit einer gewissen Distanz betrachteten fahrenden Leute ist gestiegen. Es hat sich herumgesprochen, dass die meisten Vagabunden sind, weil es ihre Arbeit verlangt, und dass sie im Winter, wenn die Saison vorüber ist, sesshaft sind und in ihre Wohnungen oder Häuser ziehen. „Wir sind mehr und mehr ein geachteter Bestandteil der Gesellschaft geworden“, sagt Jennifer Slepitschka. Der Familie gehört in einem großen Bauernhaus in Seyda, in dem drei Artisten- und Schaustellerfamilien leben, eine große Wohnung. Enricos Großvater hat sie ihnen geschenkt.

Enrico Slepitschka beim täglichen Sicherheitscheck.
Enrico Slepitschka beim täglichen Sicherheitscheck.

© Andreas Klaer

Enrico ist ein Abkömmling von Sperlich & Hein, einer der ältesten deutschen Zirkusfamilien, die auf eine 100-jährige Tradition in der Manege zurückblicken kann. Als erster privater Lizenzzirkus der DDR erhielt der Zirkus Hein 1966 das Prädikat „reisende Schule“, ein Lehrer fuhr stets mit. Er und seine heutige Frau Jennifer begegneten sich flüchtig bereits, als sie noch Kinder waren. Es gab nähere Kontakte im Winter, eine große Feier im Kreis von Schaustellern und Zirkusleuten, später Besuche in Berliner Diskotheken. „Das machen wir genauso wie andere junge Leute“, sagt Jennifer Slepitschka.

Der Mythos vom familiären Zusammenhalt unter Schaustellern lebt

Als sie ein Paar wurden, hatte Enrico schon einiges erlebt. Im Alter von 14 Jahren begann er eine vierjährige Ausbildung an der renommierten Schule für Artistik in Berlin, Realschulabschluss eingeschlossen. Er hatte sich auf Äquilibristik, die Gleichgewichtskunst, spezialisiert, zu der die Handstandsakrobatik gehört. Dazu noch das Jonglieren mit Bällen und Keulen, dann trat der Akrobat zehn Jahre lang in Westdeutschland im legendären Zirkus Gerhard Sperlich auf – Verwandte von ihm.

Der Mythos vom familiären Zusammenhalt unter Schaustellern, er lebt. Als Enrico und Jennifer heirateten, kamen in der Schützenhalle von Elster (Elbe) rund 350 Feiernde zusammen, fast ausschließlich Zirkusleute, Schausteller und Puppenspieler. „Wir sind wirklich eine große Familie“, sagt Enrico Slepitschka, und seine Frau fügt lächelnd hinzu: „Es hört sich vielleicht komisch an: Aber das war tatsächlich eine Feier im kleineren Kreis.“ Hochzeiten mit rund 600 Gästen seien unter Schaustellern keine Seltenheit.

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Die Slepitschkas bauten mit der Hilfe der Familie ihr Unternehmen auf, ihre Eltern überließen ihnen den King Kong Tower und einen Eis- und einen Süßigkeitenwagen mit gebrannten Mandeln und den üblichen Rummel-Leckereien. Lange lief es gut. Doch dann kam die Corona-Pandemie und eine harte Zeit begann. Die Eltern erkrankten leicht, zum Glück im Winter, die Kinder blieben verschont.

Aber mehrfach wurden später Volksfeste abgesagt, die Einnahmen schrumpften auf null. Der Staat half nur bei den Fixkosten, Unternehmerlohn zahlte er, außer in Bayern, nicht. „Wenn wir nicht staatliche Hilfen von etwa 40 000 Euro in zwei Jahren bekommen hätten, wären wir pleite“, sagt Jennifer Slepitschka. „Wir müssen ja allein jährliche Versicherungsbeiträge von rund 10 000 Euro zahlen.“

Alle Einnahmen fließen ins Geschäft

Manche Schausteller wussten sich zu helfen, auch, weil sie sich für kaum etwas zu fein sind. Als Enrico Slepitschka erfuhr, dass auf einem Bauernhof nahe seines Heimatorts Seyda dringend Lkw-Fahrer gebraucht wurden, tat er sich mit 20 Schaustellern zusammen und fuhr mit ihnen Gülle aus. „Wir haben gelernt zu arbeiten“, sagt er.

„Mitunter verdienen wir gut, aber wir stecken unser ganzes Geld ins Geschäft“, sagt Jennifer Slepitschka. Den stattlichen Wohnanhänger haben sie in vier Wintern selbst gebaut. Er würde, hergestellt von einer Spezialfirma, um 150 000 Euro kosten, sagt Jennifer Slepitschka: „Aber wir sind ein kleiner Familienbetrieb, das ist zu viel für uns.“

Schaustellerfamilie Slepitschka in ihrem Wohnwagen.
Schaustellerfamilie Slepitschka in ihrem Wohnwagen.

© Andreas Klaer

Jetzt steht die Familie nur mit dem King Kong Tower auf dem Potsdamer Rummel. Diesmal braucht sie keine Helfer, die sonst bei freier Kost und Logis nebenan in separaten Wohnanhängern leben und monatlich zwischen 1000 und 1500 Euro netto verdienen. Auf dem Herbstrummel wird Jennifer Slepitschka wohl wieder zwei Geschäfte mehr führen: den Eiswagen und den Süßigkeitenwagen.

Standgebühren, Wasser und Elektrizität kosten rund 3000 Euro

Die Familie hat ihr Auskommen, obwohl ihre Kosten hoch sind. Es müssen 14 Fahrzeuge unterhalten und für die 24 Tage im Lustgarten rund 3000 Euro an Standgebühren, Wasser und Elektrizität aufgebracht werden. Das ist noch nicht einmal viel, denn der Schaustellerverband Sanssouci mietet das Areal von der städtischen Wohnungsbaugenossenschaft Pro Potsdam und legt seine Kosten ohne Gewinnerzielungsabsicht auf die Mitglieder um.

Groß war die Erleichterung, als sie in Potsdam ihren King Kong Tower endlich wieder auf einem Rummel ohne Maskenpflicht aufbauen konnten. Spürbar war, wie stark sich unter den Besuchern die Sehnsucht nach Vergnügen aufgebaut hatte. Das Wetter war gerade über Ostern gut, mit den Einnahmen war das Ehepaar zufrieden. „Wenn wir an einem Wochenende zwischen 5000 und 10 000 Euro einnehmen, ist das nicht schlecht“, sagt ihr Mann. Eine Fahrt im King Kong Tower kostet 3,50 Euro.

So können sich die Slepitschkas dann und wann auch einen Urlaub gönnen. Im ägyptischen Hurghada am Roten Meer waren sie schon, auch auf der thailändischen Insel Phuket.

Und Enrico Slepitschka gewährt sich noch einen weiteren Ausgleich zur Arbeit. Wenn die Lichter auf dem Rummel ausgehen, geht er regelmäßig bis ein Uhr nachts am nahen Potsdamer Hafen angeln. Zander, Barsch und Hecht zieht er dort an Land. Auch wenn es im Augenblick etwas schwieriger ist, weil Laichzeit ist. Der Genuss geschieht arbeitsteilig: Er angelt, seine Frau brät die Fische in der Wohnküche. „Eine Köstlichkeit für uns alle“, sagt Slepitschka.

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