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Ein Rotarmist quert nach 1945 die Straße vor dem Eingang zum Neuen Garten.

© Privat

Rummel, Rennbahn und „Kalinka“: Der Neue Garten als sowjetisches "Disneyland"

Bis 1953 nutzte die Rote Armee den Neuen Garten in Potsdam als Vergnügungspark. Ingbert Littmann hat die Zeit dort miterlebt.

Potsdam - Oberst Pawel Skomorowski, Chef im Neuen Garten und in der Nummer 2 der beschaulichen Holländer-Häuser residierend, lauschte eines Spätsommertags 1953 staunend in den Hörer seines Feldtelefons: „Da, da, verstehe, wird geräumt“, mag er seinem Gesprächspartner in der Wünsdorfer Zentrale der Roten Armee (oder gar im Kreml?) den Befehl bestätigt haben: Jedenfalls ist es am Sonntag, am 6. September, exakt 67 Jahre her, dass das einst europaweit einmalige sowjetische „Disneyland“ wieder in deutsche Hand zurückgegeben wurde: Der Neue Garten, exakt vom 18. Juni 1945 an und damit bereits vor dem Beginn der Potsdamer Konferenz im Schloss Cecilienhof von der Roten Armee genutzt, gelangte 1953 wieder in die sorgsame Obhut der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci, der Vorläuferin der heutigen Schlösserstiftung. Es ist ein Stück bislang weitgehend unbekannter Stadtgeschichte dieses „englischsten“ unter den vornehmen Potsdamer Parks.

Von 1945 bis September 1953 hing das russischsprachige Transparent über dem Eingang zum Neuen Garten in Potsdam. Die Inschrift lautet übersetzt: "Zentraler Park für Kultur und Erholung der Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland"
Von 1945 bis September 1953 hing das russischsprachige Transparent über dem Eingang zum Neuen Garten in Potsdam. Die Inschrift lautet übersetzt: "Zentraler Park für Kultur und Erholung der Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland"

© POTSDAM MUSEUM

Seltsamerweise blieb diese achtjährige Herrschaft der Roten Armee über die Hohenzollern-Heiligtümer am Heiligen See auch für viele Alteingesessene unbekanntes historisches Terrain, obwohl man ja wusste, „dass in und um die Stadt bis zu 30.000 Soldaten und Offiziere stationiert waren“, wie Brandenburgs früherer Ministerpräsident Matthias Platzeck kürzlich in einer TV-Runde bemerkte. Er wohnte ganz in der Nähe des Neuen Gartens unweit der Glienicker Brücke.

Große kyrillische Buchstaben

Dabei war unübersehbar, was jahrelang über den backsteinernen Torhäusern zum Neuen Garten in großen kyrillischen Buchstaben stand: „Zentraler Park für Kultur und Erholung der Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland“. Daneben hieß es triumphierend: „Unsere Sache ist richtig, wir haben gesiegt“ und „Es lebe die mächtige Sowjetunion“. Platz für den „Lunapark“, wie er jetzt hieß, gab es reichlich, keine Frage: Den meist jungen Soldaten mit dem Metall-Stern am Schiffchen und ihren Offizieren standen 102,5 Hektar einst herrschaftlichen Blumen-Flors, weite Auen, malerische Baumgruppen, das charmante Marmorpalais – und der gesamte Heilige See zur Verfügung.

Zeitzeuge Ingbert Littmann mit einem Souvenir vom „Lunapark“. 
Zeitzeuge Ingbert Littmann mit einem Souvenir vom „Lunapark“. 

© Sebastian Gabsch

Über jene, für viele Potsdamer in ihrer bombardierten Stadt dunkle Zeit – samt 19.000 Wohnungslosen wegen der Armee-Einquartierung und zusätzlichen 15.000 Flüchtlingen aus den früheren Ostgebieten – weiß ein Zeitzeuge präzise Bescheid: Ingbert Littmann, 79 Jahre alt und seit 1947 im Haus Nummer 3 der schmucken Holländer-Galerie im Neuen Garten daheim: „Erst bei meinen Großeltern, später dann mit meiner Frau.“ Der spätere Polizist hat sie kommen und gehen sehen, „die kleinen Trupps – immer ein Offizier mit Pistole im Halfter und acht Soldaten –, die russischen Familien beim Sonntagsvergnügen im Park, die Schlangen vor den Karussells, das Badeleben am Ufer, die sagenhaften Feuerwerksnächte über dem See…“

Littmann wohnt seit 1947 in einem der Holländer-Häuser im Neuen Garten.
Littmann wohnt seit 1947 in einem der Holländer-Häuser im Neuen Garten.

© Sebastian Gabsch

Die Rote Armee nahm den von Peter Joseph Lenné gestalteten Park gleichsam in Besitz: „Deutsche durften nicht mehr hinein“, erzählt Littmann. „Manchmal mussten auch die wenigen deutschen Bewohner für zehn Tage verschwinden, wenn es hohen Besuch gab. Wen sie dennoch erwischten, musste zur Strafe im Cecilienhof Kartoffeln schälen!“ Deutsche Wächter ohne Uniform hätten am Eingang kontrolliert. „Jeder russische Besucher musste 50 Ost-Pfennige zahlen – so viel kosteten auch die Fahrgeschäfte – es war nichts umsonst“, erinnert sich der Pensionär und erzählt, als sei es gestern gewesen: „Die Saison begann immer mit einem Riesen-Fest am 1. Mai. Tagsüber ging es um 10 Uhr los, um 21 Uhr musste jeder Besucher das Gelände verlassen haben.“

Zwei Karussels, ein Riesenrad

Treudeutsch-bürokratisch war montags immer „Schließtag“. Für die Besucher, die sich täglich zu Hunderten und Aber-Hunderten bei „Kultur und Erholung“ amüsierten und picknickten, gab es eine Fülle vergnüglicher Abenteuer: „Zwei Karussells, ein Riesenrad – einmal flog eine Gondel bis ins Gebüsch, aber es war nichts passiert – Schießstand mit Luftgewehren und Plastikblümchen, Haut den Lukas, Autoscooter, ein Kraftmesser, Bühnen mit Musik und Conférenciers“, zählt Littmann auf. Alles betrieben von Schaustellern, die von der Roten Armee aus der Sowjetischen Besatzungszone, kurz SBZ, herbeizitiert wurden.

Besonders exotisch: „Eine komplette 400-Meter-Radrennbahn aus Beton mit überhöhten Kurven. Sie lag nordwestlich vom Palais“, erinnert sich Littmann. Wer genau hinschaut, erkennt heute noch im Gras den oberen Rand der Bahn.

Diese deutsche Familie betrieb das Riesenrad während der Nutzung des Neuen Gartens durch die Rote Armee.
Diese deutsche Familie betrieb das Riesenrad während der Nutzung des Neuen Gartens durch die Rote Armee.

© privat

Der Autor dieses Textes erinnert sich, dort selbst noch auf seinem „Renner“ mit seinem Klassenkameraden Karl-Gustav Illmer auf der urigen, leicht holprigen Piste gestrampelt zu haben. Aber erst, nachdem Schüler der Helmholtz-Grundschule über Tage das Unterholz des Parks von Tonnen verrotteter Äste und Blätter hatten säubern müssen – die Bilanz jahrelanger Nicht-Bekümmerung.

Im Park fehlte es an nichts: Für Erfrischungen mit Limonade, Bonbons, Keksen und Gebäck standen zwei Kioske neben dem Marmorpalais bereit – hinter dem ein martialischer T-34-Panzer hervorlugte. Im Palais selbst tanzte, trank und turtelte das Offizierskorps. Aus der Kellerküche roch es verführerisch: „Als Kinder gingen wir hin, nur um den Bratenduft zu erleben“, sagt Littmann.

Auf dem Riesenrad von Walter Berger aus Treptow vergnügten sich Offiziere und Soldaten im Neuen Garten.
Auf dem Riesenrad von Walter Berger aus Treptow vergnügten sich Offiziere und Soldaten im Neuen Garten.

© privat

Dieses erste „Disneyland“ Europas verzeichnete noch weitere Eigenheiten: Des Nachschubs für das Offizierscasino wegen grasten nahe Cecilienhof fünf Milchkühe. „Bewacht von vier Wächtern, betreut von einer Magd“, erzählt Littmann. Der Legende nach soll das Quintett den Begriff „Vergnügungspark“ durchaus wörtlich genommen haben.

Auch auf dem Heiligen See war einiges los. An der Treppe unterhalb des Marmorpalais’ ließen sich Boote mieten. Von der Gotischen Bibliothek her rauschten Mini-Dampfer bis in den Jungfernsee hinein. Und an Musik fehlte es wahrlich nicht: „In den Baumkronen hingen überall Lautsprecher mit dem Programm von Radio Moskau.“, sagt Littmann. Ob „Kalinka“ oder das Lied von den Moskauer Nächten mit ihrem berühmten „Podmoskownyje Wjetschera“ – für Sing und Sang war im Neuen Garten gesorgt. Die Gentlemen vis-à-vis in der britischen Militärmission, die später Wolfgang Joops „Wunderkind“-Villa wurde, hörten nichts ab, sondern mit.

Andere Zeiten

Nach der Rückgabe an die DDR brachen für den Neuen Garten bekanntlich dunklere Zeiten an. Für den Bau der Mauer wurden große Teile des Gartendenkmals buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. Doch auch diese Epoche ist zum Glück seit 30 Jahren vorüber. Die Spuren des Todesstreifens sind längst beseitigt, der Besucher findet im Neuen Garten wieder Romantik pur – und verwunschene Eckchen zum Verweilen.

Hans-Rüdiger Karutz

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